Leserbriefe und Replik
Liebe Leser*innen,
die Redaktion begrüßt es sehr, wenn Sie sich in Leserbriefen und Diskussionsbeiträgen zu den Themen der Zeitschrift äußern – ganz herzlichen Dank! Gleichzeitig müssen wir darauf hinweisen, dass wir uns – gerade angesichts der erfreulich zunehmenden Zahl von Zuschriften – vorbehalten, eine Auswahl zu treffen oder gegebenenfalls Zuschriften auch kürzen.
Als Leser*innen beachten Sie bitte, dass die Diskussionsbeiträge die Meinung der Absender*innen und nicht die der Redaktion wiedergeben.
Aussagepsychologie und Justiz müssen sich weiterentwickeln
Zu J. Schemmel: Wann gefährdet Psychotherapie die Glaubhaftigkeit in Strafverfahren (und wann nicht)? Psychotherapeutenjournal 3/2024, S. 233–241.
In seinem Artikel beschreibt Schemmel aus seiner Sicht ein Spannungsfeld zwischen Psychotherapie und Glaubhaftigkeit von Aussagen in Gerichtsverfahren. Dabei führt er eine Reihe von möglicherweise problematischen Verhaltensweisen von Psychotherapeut:innen an und gibt Hinweise, wie Psychotherapeut:innen die Entstehung sogenannter „Scheinerinnerungen“ vermeiden können. Dazu möchte ich hier einige kritische Bemerkungen machen:
Anders als von Schemmel dargestellt liegt das grundsätzliche Spannungsfeld aus Sicht von Betroffenen, d. h. der Opfer von Gewalttaten, jedoch darin begründet, dass diese häufig ein überwältigendes Verlangen haben, sich emotional, gedanklich, verhaltensmäßig und mnestisch von dem Erlebten zu distanzieren (PTBS-Vermeidungskriterium). Sie wollen das Erlebte „loswerden“, „vermeiden“, „verarbeiten“ oder „vergessen“, weil es dazu führt, sich unerträglich schlecht zu fühlen. Strafverfolgung verlangt von Betroffenen aber nun das exakte Gegenteil. Sie sollen sich so genau, ausführlich und detailliert wie irgend möglich mit dem Erlebten beschäftigen, sich an dieses erinnern und in Worte fassen. Dies bringt Betroffene mitunter an und über die Grenze des Ertragbaren (siehe hierzu für Interessierte auch den sehr hörenswerten Podcast von „ZEIT online“ mit Kirsten Böök und Ingrid Wild-Lüffe). Eine Justiz und Aussagepsychologie, die an einer effizienten Strafverfolgung interessiert ist, sollte sich mit diesem Spannungsfeld auseinandersetzen und Lösungs- bzw. Verbesserungsvorschläge entwickeln. Dazu leistet der Artikel jedoch bedauerlicherweise keinen Beitrag.
Betroffene sehen sich in der Strafverfolgung neben dem oben genannten Spannungsfeld auch zwei zusätzlichen Hürden ausgesetzt. Zum einen in dem juristischen Grundsatz „in dubio pro reo“, der (aus nachvollziehbaren Gründen) den Angeklagten schützt. Und zum anderen in der Anwendung der sogenannten „Nullhypothese“ in der Aussagepsychologie. Diese besagt im Kern, dass die Aussage von Betroffenen a priori so aufgefasst wird, als sei sie nicht auf tatsächlich Erlebtem basierend. Dann wird im Verlauf geprüft, ob dies nicht doch der Fall sein könnte. Eine sehr differenzierte Kritik dieses Prinzips inklusive einiger Verbesserungsvorschläge haben Fegert und Kollegen bereits im April 2024 vorgelegt. Eine der Kernaussagen (neben der Aussage, dass die Nullhypothese bestimmte Betroffenen-Gruppen systematisch benachteiligt): Das wissenschaftliche Prinzip der Nullhypothese in der Forschung (bei dem eine Hypothese bei 95-%iger Wahrscheinlichkeit angenommen, mit einer ausreichenden Teststärke verknüpft und auch repliziert werden muss) wird in der Rechtspsychologie in eine simple Dichotomie gepresst. Damit wird aber eine Wissenschaftlichkeit suggeriert, die de facto so nicht vorhanden ist. Herr Schemmel hatte sich auf einem BDP-Vortrag zum selben Thema im Mai leider noch nicht mit dem Text beschäftigt und zieht es auch im jetzigen Artikel vier Monate später vor, die Arbeit von Fegert et al. zu ignorieren, was sehr schade ist! Unerwähnt bleibt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Schulung von Mitarbeiter:innen der Polizei und Justiz im Bereich der Traumasymptomatik und in dem oben benannten Spannungsfeld, um in Zukunft die Wahrscheinlichkeit, eine juristisch gut verwertbare Aussage zu bekommen, zu erhöhen. Wie wäre es mit der Schaffung der Möglichkeit einer anonymen „Aussagesicherung“ analog zur bereits möglichen medizinischen anonymen Spurensicherung nach einer Vergewaltigung?
Obwohl der Autor Begriffe wie „Verdrängung“ und „Dissoziation“ verwendet, ist leider keine scharfe Definition dieser Begriffe zu erkennen. Insbesondere scheint der Autor das Konzept der „Dissoziation“ und der „strukturellen Dissoziation“ und deren Implikationen für Gedächtnis und Aussagefähigkeit nicht gut zu kennen oder aber zu ignorieren. Teil der PTBS-Definition ist die „dissoziative Amnesie“, das heißt, das teilweise oder vollständige Nicht-Erinnern (!) von Kernaspekten des traumatischen Geschehens. Im Bereich der strukturellen Dissoziation wird das Erinnern als eine Handlung betont, die jemand ausführt, oder eben nicht. Insofern mehrere dissoziative Agenzien in einer Gesamtperson existieren (wie bei der partiellen dissoziativen Identitätsstörung pDIS und der dissoziativen Identitätsstörung DIS) kann es sein, dass ein Agens die Handlung des Erinnerns ausführt (sich erinnert), während ein anderer Agens dies nicht tut (sich nicht erinnert). Stattdessen werden widersprüchliche Aussagen wie: „traumatische Erinnerungen (werden) in der Regel besonders gut behalten“ und: „spontane Wiedererinnerungen (…), die wiederum über einen gewissen Zeitraum nicht abgerufen wurden“ ohne Kommentar nebeneinandergestellt. Eine Erklärung, wie diese beiden einander widersprechenden Aussagen zu verstehen sein könnten: Fehlanzeige.
Weiterhin werden eine Reihe Handlungsempfehlungen an Traumatherapeut:innen (teilweise völlig berechtigt und selbstverständlich, teilweise auch hochproblematisch) getätigt: Psychotherapeut:innen sollten Suggestion in Therapien vermeiden (was schlicht einer Leitliniengerechten Behandlung entspricht), um der Entstehung von sogenannten „Scheinerinnerungen“ vorzubeugen, und am besten alles gerichtsfest dokumentieren.
Dabei entsteht, neben der völlig geschichts- und kritiklosen Bezugnahme auf die Arbeit von Frau Loftus, die suggestive Wirkung, Therapeut:innen würden das nicht tun und regelhaft sogenannte „Scheinerinnerungen“ induzieren. Dies ist zurückzuweisen. Es ist zudem nur schwer vorstellbar, dass sich jemand, der sich beruflich intensiv mit der Wirkung von Suggestion beschäftigt, sich der suggestiven Kraft einer solchen Empfehlung gar nicht bewusst ist.
Therapeut:innen sollten nach Schemmel zudem im Zweifel ihre Patient:innen auf die Möglichkeit von sogenannten „Scheinerinnerungen“ hinweisen. Dabei setzt sich der Autor in keiner Weise mit der suggestiven Wirkung eines solchen Vorgehens auseinander. Wie mag ein:e Patient:in es wohl verstehen, wenn er/sie äußert, möglicherweise missbraucht worden zu sein, und Psychotherapeut:innen darauf mit einer Aussage reagieren: „Es gibt das Phänomen der sogenannten „Scheinerinnerungen“, wussten sie das schon?“ Auch der Hinweis zu „eruieren, ob diese (Erinnerung) spontan oder als Ergebnis einer gezielten Suche nach Erinnerungen“ entstanden ist, birgt ein ähnlich suggestives Potential. Das Ergebnis solcher „Hinweise“ und der ständigen Veröffentlichung neuer Texte mit ähnlichem Grundtenor wie im vorliegenden haben zur Folge, dass Therapeut:innen ihren Patient:innen misstrauen und Patient:innen Angst davor entwickeln, dass ihnen (oft nach bereits häufigen schlechten Erfahrungen) auch in einer Therapie nicht geglaubt wird. Schätzungen für Kinder aus gewaltbelasteten Familien gehen davon aus, dass Kinder bis zu 7 (!) Erwachsenen von ihren schlimmen Erfahrungen berichten müssen, ehe ihnen jemand Glauben schenkt. Dies ist zum Schaden einzelner Betroffener und auch im Sinne einer effizienten Strafverfolgung nicht wünschenswert, denn: Der Staat soll und muss seine Bürger:innen vor falschen Beschuldigungen schützen UND (!) Täter:innen im Sinne des Schutzes der Einzelnen und der Allgemeinheit bestrafen. Durch die Hinweise des Autors wird diese Aufgabe nun völlig einseitig in den Bereich der Psychotherapie und auf die Seite der Betroffenen verschoben, ohne auch nur einen einzigen Vorschlag zu machen, wie sich Aussagepsychologie und Justiz selbst weiterentwickeln könnten. Es werden mögliche (kurz- und langfristige) negative Auswirkungen dieser Vorschläge nicht thematisiert und mitbedacht. Zusätzlich werden bereits gemachte Vorschläge zur Verbesserung ignoriert. Das ist sehr enttäuschend.
Gernot Lauber,
Leverkusen
Wohltuender und notwendiger Blick ins Gesellschaftliche
Zu A. Kalender & E. Pfeifer: Die Pathologie des Zeitgeistes und ihre kollektiven Fehlhaltungen“. Psychotherapeutenjournal PTJ 4/2024, S. 385–392.
Es ist immer wieder eine große Freude, im PTJ auf Artikel zu stoßen, die über den engen psychotherapeutischen Rahmen hinaus ins Gesellschaftliche reichen. Im vorliegenden Artikel ist dies ja schon durch seine Titelgebung mit Verweis auf den „Zeitgeist“ verheißen.
Und ja, auch ohne empirische Überprüfung mittels eines Messinstruments darf man wohl konstatieren, dass die von Viktor Frankl vor 70 Jahren beschriebenen „kollektiven Fehlhaltungen“ auch heute noch von Relevanz sind. Denn was zeichnet den Zeitgeist anno 2025 aus? Im Kern doch wohl eben eine „Scheu vor der Verantwortung“ durch Flucht in die vier besprochenen Fehlhaltungen: Allzu viele Menschen neigen zum Hedonismus, also der nach Frankl „provisorischen Daseinshaltung“. Viele andere behaupten, man könne als Einzelner eh nichts machen (entsprechend der „fatalistischen Lebenseinstellung“). „Kollektivistisches Denken“ wird dato stark befördert durch den Einheitsbrei bzw. eingeschränkten Meinungskorridor der Mainstreammedien. Und wer jetzt noch nicht erfasst ist, kann oft bei den kompromisslosen Vertretern des „Fanatismus“ eingereiht werden.
Natürlich ist das noch nichts Psychopathologisches im engeren Sinn. Doch kollektiv verbreitet werden diese Haltungen und Einstellungen, wie im Artikel treffend dargestellt, „zu einer Gefahr [auch] für die Gesellschaft“, ja sind sogar „mögliche Kriegsursachen“ (S. 387, 1. Absatz rechts).
Gerade zu Letzterem ist angesichts der in unserem Lande herrschenden Kriegsrhetorik zu fragen, wer hier individuell oder auch in Gemeinschaften (wie bspw. der Friedensbewegung) noch seine Stimme erhebt und Verantwortlichkeit zeigt gegenüber einer Politik, die uns in die ggf. auch nukleare Katastrophe zu führen droht. Schweigen fast allerorten! Stattdessen ein Verkriechen in eben Hedonismus, Fatalismus, Kollektivismus und auch Fanatismus – Haltungen, die allesamt nichts zur „Eindämmung“ oder Verhinderung der drohenden Eskalation beitragen. Und sicher, die Ansätze zur Modulation der kollektiven Fehleinstellungen sind mit „Bewusstmachung der eigenen Freiheit“ und „Stärkung der persönlichen Verantwortlichkeit“ richtig benannt. Nur: Wer wird sich die uralten und scheinbar überholten Gedanken eines Viktor E. Frankls antun und wer sich davon so ansprechen lassen, dass er/sie eine Änderung seiner Haltungen vollzieht? Vermutlich nur wenige und diese werden nicht die Hauptpersonen sein, die eigentlich etwas tun/verändern müssten …
Jürgen Karres,
Landsberg am Lech
Einseitigkeit in der Psychotherapie
Zu T. Rau et al.: Denkanstoß zu extremistischen Ansichten bei Patient*innen. Psychotherapeutenjournal 1/2024, S. 44–49, und K. Sischka et al. „Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit – Teil II“. Psychotherapeutenjournal 2/2024, S. 120–127.
Dieser Leserbrief bezieht sich auf die beiden Artikel im Psychotherapeutenjournal über einen „Denkanstoß zu extremistischen Ansichten bei Patient*innen“ vom Januar 2024 bzw. „Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit – Teil II“ vom Februar 2024. Ich möchte deutliche Bedenken an den ethischen Implikationen dieser Artikel äußern:
Die Artikel suggerieren, es gäbe besonders gefährliche Bevölkerungs-Gruppen, bei denen PsychotherapeutInnen die Kommunikation erst zu lernen hätten. Ich frage, ob hier nicht erst Menschen marginalisiert wurden, die jetzt dafür therapiert werden sollen? Das wäre eine neue Variante von blaming the victim. Auch wenn es wirklich um 2022 eine Gruppe von Menschen gegeben haben soll, die mit ein paar Pistolen einen Putsch planten, unterliegen die entweder dem Strafverfahren oder der Psychiatrie. Hier fehlt jedoch ein Fokus auf Verhältnismäßigkeiten – oder wie PsychologInnen sagen würden: Die Wahrnehmung zweiter Ordnung selektiver Wahrnehmung anderer oder der eigenen Person.
Was wird von Alltags-Menschen und PsychotherapeutInnen allzu oft selegiert bzw. ignoriert?
Jeden Tag sterben Tier- und Pflanzenarten aus, wir befinden uns im Sechsten Sterben, der menschgemachten Traumatisierung des Planeten. Ebenso wenig wird die (im doppelten Sinn) fossile Industrie nicht als Kollektiv von Massenmördern aufgeführt, die in 2018 für 8 Millionen Tote weltweit verantwortlich gewesen sein soll, also für jeden 5. Toten (Sommavilla, 2021). Sehr hochrangige Politiker sind in der BRD in Korruptionsskandale verwickelt und bleiben an der Regierung.
Es bleibt die Frage, ob sich wichtige MultiplikatorInnen konform oder kritisch zu diesen Umständen verhalten wollen. Auf dem Reflexions-Niveau, das unserer Profession möglich ist, sollten wir an diese höhere Ansprüche haben, als Minderheiten zu dämonisieren und – wie Pia Lamberty im Spiegel Anfang 2023 – dafür mehr Repression gut zu heißen.
Sven Jensen,
Hechingen
Anmerkungen und Bitte um Klarstellung und Präzisierung
Zu Exner, C.:[1]Im Namen der Kommission Psychologie und Psychotherapieausbildung des Fakultätentags Psychologie und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie Wie gelingt die Umsetzung der neuen Studiengänge zur Approbation in Psychotherapie – Antworten auf häufig gestellte Fragen. Psychotherapeutenjournal 2/2024, S. 128–134.
Mit großem Interesse habe ich den sehr differenzierten Beitrag von Frau Prof. Exner „zum Prozess und zum Stand der Studiengangreform“ zur Approbation in Psychotherapie gelesen, der „faktenbasierte“ Antworten (S. 128) auf häufig gestellte Fragen geben möchte.
Angesichts der Komplexität der Materie ist es sicher nicht leicht, auf die gestellten Fragen klare Antworten zu geben. Daher sind sie m. E. in manchen Punkten nicht hinreichend, worauf ich gerne aufmerksam machen möchte.
Auf den Bericht über die empirischen Ergebnisse der in der Literaturangabe zitierten, 2024 publizierten Studie von Herrn Prof. Rief et al. zu den neuen Studiengängen, kann ich hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen. Ich vermisse aber, dass nicht auch andere Einschätzungen bei dieser Analyse Berücksichtigung fanden, etwa die von Jülide Erdogan und Lisa Kroll,[2]Erdogan, J., Kroll, L. Reform der Psychotherapeutenausbildung – Hindernisse und Chancen für Student*innen, Forum der Psychoanalyse 38, S. 299-310, 2022, https://doi.org/10.1007/s00451-022-00479-4 beide Studierende der Psychologie und Psychotherapie.
Um den Prozess, die dabei entstehenden Probleme und den derzeitigen Stand der Studiengangreform zur Approbation in Psychotherapie besser zu verstehen, scheint es mir wichtig, die universitäre klinisch-psychologische Ausgangssituation klar zu benennen. Denn das novellierte PsychThG schreibt die Implementierung eines approbationsbegründenden Psychotherapiestudiums vor, das „die Breite der wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Behandlungsverfahren abdecken muss (Gesetzesbegründung PsychThG 2019, BT-DrS 19/9770, S. 35 ff.)“. Diese Gesetzesbegründung knüpft damit bewusst an die aktuelle Psychotherapie-Richtlinie an, die in § 15 die im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung anerkannten Behandlungsformen aufzählt.[3]Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss über die Durchführung der Psychotherapie in der Fassung vom 20. November 2020 Denn es ist gesetzgeberischer Wille, in der sozialstaatlichen Gesundheitsversorgung den Patient*innen diese Psychotherapieverfahren weiter durch entsprechend darin qualifizierte Behandelnde zur Verfügung zu stellen.
Es erweist sich jetzt als ausgesprochen nachteilig, dass die universitären Anforderungen an künftige Lehrstuhlinhaber*innen in der Klinischen Psychologie langjährig jeweils ausschließlich eine verfahrensspezifisch verhaltenstherapeutische Qualifikation der Bewerber*innen verlangten. Entsprechend gab es 2019 über 90 in Verhaltenstherapie qualifizierte Professor*innen,[4]Liste der DGPs zu den Professuren der Klinischen Psychologie 11 2019 lediglich zwei in anderen wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren, nämlich in Kassel Prof. Benecke (AP und TP) und in Frankfurt den inzwischen emeritierten Prof. Habermas (AP, TP), dafür neu in Köln Prof. Ehrenthal (TP).
Diese langjährige wissenschaftliche Einseitigkeit der fachlich-inhaltlichen theoretischen Lehre und therapeutischen Ausrichtung der universitären Klinischen Psychologie schafft im Ergebnis die Grundlage für die neuen, von Frau Prof. Exner benannten, Herausforderungen, bei den universitären Stellenbesetzungen nun „Vertreter*innen mit Fachkenntnissen in nicht verhaltenstherapeutischen Verfahren“ zu finden – und sich damit entsprechend sehr schwer zu tun.
Der oben beschriebene Zustand wird, denke ich, sinnfällig in der Geste, die nur noch Verhaltenstherapie und „nicht verhaltenstherapeutische Verfahren“ unterscheidet – und nur noch Verhaltenstherapie kennt und differenziert lehrt. Hier würde ich mir eine entsprechende Präzisierung wünschen, in der die wissenschaftlich geprüften und anerkannten Psychotherapieverfahren mit ihren sehr klaren, differenzierten theoretischen Konzepten und klinischen Behandlungsmethoden namentlich benannt werden. Es verwundert nicht, dass in einem universitären Klima, das bereits die korrekte namentliche Nennung der anderen wissenschaftlich geprüften und anerkannten Psychotherapieverfahren scheut, bei den Vertreter*innen dieser Therapieverfahren wenig Interesse besteht, hier bei minimaler Bezahlung universitär in die Bresche zu springen, auch wenn dies für die Studierenden sicher hilfreich wäre.
Allerdings überrascht es, dass in der Folge, wie von Frau Prof. Exner beschrieben (S. 131), „vorhandenes unbefristet eingestelltes Personal auf Kosten der Hochschule“, d. h. letztlich auf Kosten der Steuerzahlenden der jeweiligen Länder, „nachgeschult“ wird, „um fehlende Verfahren zu ergänzen sowie um Basiswissen und Basiskompetenzen in allen wissenschaftlichen Verfahren lehren zu können“. D. h., man geht davon aus, dass die Länder die zusätzlichen Folgekosten dieser einseitigen Wissenschaftspolitik der Klinischen Psychologie, Lehrstühle zu besetzen, tragen.
Natürlich steht den Universitäten, wie Frau Prof. Exner (S. 131) schreibt, „ein hoher Grad an Autonomie zu, welcher im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sowie in den Hochschulgesetzen der Länder verankert ist. Dies betrifft im besonderen Maße die von den Universitäten gewählten Personalstrukturen, die Denominationen von Professuren (Fachbezeichnung und Profil der Professur) und fachlichen Schwerpunktsetzungen. […] Diese Freiheit ist für Universitäten unerlässlich, um auf gesellschaftliche Anforderungen […] reagieren zu können“. Da der Studiengang wissenschaftlich für einen Heilberuf mit spezifischem Anforderungsprofil qualifiziert, wird die universitäre Freiheit dadurch gerahmt und begrenzt.
In diesem Sinne ist die Implementierung dieser neuen approbationsbegründenden Studiengänge der Psychotherapie eine ins Psychotherapeutenausbildungsreformgesetz (PsychThGAusbRefG) gegossene gesellschaftliche Anforderung, auf die die Universitäten nun eine sachgerechte Antwort finden müssen. Zwar ist die Wissenschaftsfreiheit im Ausgangspunkt die Freiheit des einzelnen Wissenschaftlers, sich individuell wissenschaftlich zu betätigen gemäß BVerfGE 15, 256 (263 f.) Aber diese Freiheit der Wissenschaft ist kein Selbstzweck, da ihr – wie Frau Prof. Exner auch schreibt – eine Schlüsselfunktion für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zukommt, in unserem besonderen Falle die Verantwortung für die Ausbildung von akademisch qualifiziertem Nachwuchs für eine zunehmend „ ,verwissenschaftlichte’ berufliche Praxis“ (BVerfGE 35, 79 (121)) im Bereich der sozialstaatlichen Heilbehandlung und Krankenversorgung sowie für die Qualifizierung zukünftiger Wissenschaftler*innen als eigenem Nachwuchs.
Die „hochschulische Lehre“ gemäß § 9 Abs. 7 S. 1 PsychThG meint die üblichen Formen der universitären Lehre, d. h. vor allem Vorlesungen, Seminare oder Übungen, aber auch die anwendungsorientierten Ausbildungsformen (Gesetzesbegründung PsychThG 2019, BT-DrS 19/9770, S. 55) und hat z. B. gemäß §§ 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; 72 Abs. 1 S. 3; 74 des Hess HochschulG grundsätzlich in der Verantwortung von Professoren stattzufinden. Kernbereiche des Lehrangebots können gemäß § 78 Abs. 1 Hess HochschulG nicht durch Lehrbeauftragte erbracht werden, die nur zur Ergänzung des Lehrangebots beauftragt werden. Die wissenschaftlich fundierte Lehre sämtlicher wissenschaftlich geprüfter und anerkannter Psychotherapieverfahren erfordert, wenn die Verfahren nicht veröden sollen, die universitäre Forschung und Weiterentwicklung all dieser Psychotherapieverfahren, sowie dies seit langem universitär ausschließlich für die Verhaltenstherapie geschieht. Dabei kommt den Hochschullehrern gemäß Art. 5 Abs. 3 GG eine Schlüsselfunktion zu (BVerfGE 35, 79 (126 f.), sowohl für die Ausbildung der Studierenden als auch für die Förderung des universitären Nachwuchses. Dies müsste m. E. – wie bereits für die Verhaltenstherapie – entsprechend in die Denomination der Lehrstühle Eingang finden. Denn eine wissenschaftliche Vermittlung von Therapieverfahren im Rahmen des Psychotherapiestudiums ausschließlich über externe Dozent*innen oder Angehörige des akademischen Mittelbaus liefe dem Willen des Psychotherapeutengesetzes zuwider, das sämtliche wissenschaftlich geprüften und anerkannten Psychotherapieverfahren langfristig für die Versorgung der Patient*innen vorhalten möchte.
Mir scheint es wichtig, den Leser*innen des PTJ für deren eigene faktenbasierte Einschätzung bezüglich der Umsetzung der Studiengangreform zur Approbation in Psychotherapie ergänzend diese Zusammenhänge zur Verfügung zu stellen.
Christa Leiendecker,
Frankfurt am Main
Replik: Psychotherapieforschung sucht neue Wege jenseits traditioneller Verfahrensgrenzen
Antwort von Prof. Dr. Cornelia Exner auf die Zuschrift von C. Leiendecker
Wir bedanken uns herzlich für die Überlegungen, die Frau Leiendecker in ihrer Leserzuschrift zu unserem Beitrag äußert. In ihrer Leserzuschrift wird ein Spannungsfeld skizziert, das vielfach diskutiert wurde, sich aber in absehbarer Zeit kaum auflösen lässt: Natürlich sollen alle anerkannten Psychotherapie-Verfahren, Methoden und Neuentwicklungen im Rahmen der neuen Studiengänge gelehrt werden. Sie werden nach unserem Kenntnisstand auch gelehrt, sonst hätten die Studiengänge keine berufsrechtliche Anerkennung erhalten. Gleichzeitig hat sich in den vergangenen 50 Jahren in der weiteren Erforschung der einzelnen Psychotherapieverfahren eine höchst unterschiedliche wissenschaftliche Dynamik ergeben. Diese Unterschiedlichkeit spiegelt sich auch in der Anzahl internationaler Publikationen zu den einzelnen Verfahren und Methoden sowie an der inhaltlichen Ausrichtung der Wissenschaftler:innen im Bereich der Psychotherapieforschung an den deutschen Universitäten wider. Hinzu kommt, dass sich gerade viele der wissenschaftlich fundierten Neuentwicklungen nicht mehr an den typischen traditionellen Verfahrensdefinitionen orientieren, gleichzeitig ebenfalls Gegenstand einer universitären Lehre sein müssen. Man darf gespannt sein, welche Dynamik sich aus diesem Spannungsfeld ergeben wird. Entscheidend für eine Wissenschaft ist, dass sie sich weiterentwickelt, Grenzen überwindet und immer wieder neue Wege geht. Dafür sollten wir alle offen sein.
Prof. Dr. Cornelia Exner (Vorsitzende) im Namen der Kommission Psychologie und Psychotherapieausbildung des Fakultätentags Psychologie und der Deutschen Gesellschaft für Psychologie,
Leipzig
Die Weiterentwicklungen der Hörtechnik haben „Gehörlosigkeit“ deutlich verändert
Zu N. Knott & B. M. van Noort: Psychotherapie mit gehörlosen Patient*innen. Chancen und Herausforderungen aus der Perspektive von Psychotherapeut*innen. Psychotherapeutenjournal 4/2024, S. 359–365.
Zum im Psychotherapeutenjournal 4/2024 erschienenen Artikel „Psychotherapie mit gehörlosen Patient*innen“ hier ergänzende Informationen zur Situation gehörloser Menschen darüber, wie sich „Gehörlosigkeit“ durch die Weiterentwicklungen der Hörtechnik verändert hat.
Weil Cochlea Implantate (CI) seit 1988 bei Kindern eingesetzt werden, ist die Einteilung in schwerhörig und gehörlos nicht mehr so gegeben wie vorher. Im Säuglingsalter mit CI versorgte gehörlose Babys können sich sprachlich altersgemäß entwickeln. Seither sind junge Erwachsene, die gehörlos geboren wurden, mehrheitlich mit CI versorgt. In der Altersgruppe bis ca. 35 Jahre werden deshalb die meisten der in die psychotherapeutische Praxis kommenden gehörlos geborenen Menschen CI-Träger und lautsprachkompetent sein. Aber auch ältere Menschen lassen sich nach einer Ertaubung als Erwachsene implantieren. Trotzdem erleben und bezeichnen sich diese Patient*innen meist als „taub“, da sie ja nach wie vor bei Abschaltung des CI gehörlos sind. Insofern stellen sie sich bei Anmeldung für Psychotherapie häufig als hörgeschädigt vor. Patient*innen mit CI sind jedoch in der Regel sprachlich unabhängige Erwachsene, die in ein hörendes soziales Umfeld integriert sind und wenig oder keinen Anteil an der gebärdenden Community nehmen. Die (therapeutische) Kommunikation mit diesen Patient*innen kann lautsprachlich und ohne Gebärdendolmetscher*in erfolgen. Für die psychotherapeutische Arbeit ist es hilfreich, über das CI informiert zu sein und sowohl die Licht- als auch die Sitzbedingungen entsprechend so zu gestalten, dass Hören und Sehen leicht möglich sind, Kenntnisse in Gebärdensprache sind für diese Patient*innen nicht erforderlich. Somit können diese lautsprachkompetenten Patient*innen mit CI in jeder Psychotherapie-Praxis behandelt werden.
Bärbl Parson,
Hochdorf