Originalia

Von hartnäckigen Fiktionen und unbequemen Wahrheiten über die Dissoziative Identitätsstörung

Ein Faktencheck aus wissenschaftlicher Perspektive

Stubborn Fictions and Inconvenient Truths About Dissociative Identity Disorder

A Fact-Check from a Scientific Perspective

verfasst von: Philipp Herzog, Tim Kaiser & Rafaële J. C. Huntjens

Veröffentlicht / published 18.03.2025

Abstract

Zusammenfassung: Das Ziel des Artikels ist es, gängige Annahmen in der klinischen Praxis im Zusammenhang mit der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) aus Sicht der Wissenschaft näher zu beleuchten. Dazu stellen wir im ersten Teil das Störungsbild vor, bevor wir im Anschluss verbreitete Irrtümer aufgreifen und gegen die aktuelle Evidenzlage kontrastieren. Dabei führen wir neben aktuellen Befunden zu Risiko- und Prognosefaktoren auch die wichtigsten theoretischen Modelle zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung der DIS an, zeigen (neue) Behandlungsmöglichkeiten auf und geben an geeigneter Stelle Empfehlungen für die Praxis (auch im Zusammenhang mit Social Media). Da wir davon ausgehen, dass durch diese Fehlannahmen nicht nur die Forschungs-Praxis-Lücke zementiert, sondern in der Praxis (zumeist unwissentlich) auch potenziell schädliche Therapien v. a. unter Nutzung suggestiver Techniken (z. B. Reifikations- und Recovered-Memory-Techniken) durchgeführt werden, hoffen wir, mit dieser evidenzbasierten Perspektive einen Beitrag zur Verhinderung von Fehlbehandlungen und Verbesserung der Versorgungssituation dieser hoch belasteten und stark beeinträchtigten Patient*innenpopulation zu leisten.

Summary: The aim of this article is to critically examine common assumptions occurring in clinical practice related to Dissociative Identity Disorder (DID) from a scientific perspective. In the first part, we introduce the clinical presentation of DID, followed by a discussion of widespread misconceptions, which we contrast with the current state of evidence. Alongside recent findings on risk and prognostic factors, we outline the most important theoretical models explaining the development and maintenance of DID, present (new) treatment approaches, and provide practical recommendations where appropriate (including in the context of social media). We assume that these misconceptions not only perpetuate the research-practice gap but also lead, often unknowingly, to the provision of potentially harmful therapies, particularly through the use of suggestive techniques (e.g., reification and recovered-memory techniques). With this evidence-based perspective, we aim to contribute to the prevention of malpractice and the improvement of care for this highly burdened and severely impaired patient population.


Dissoziation und dissoziative Störungen

Dissoziation ist ein häufiges Phänomen bei Menschen mit und ohne psychische Erkrankungen und wird definiert als eine erlebte Diskontinuität in normalerweise integrierten kognitiven Funktionen. Zu den milden Formen der Dissoziation gehört beispielsweise die Fähigkeit zur intensiven Fokussierung bei gleichzeitigem Ausblenden der Umwelt (z. B. Absorbieren eines Buches), schwere Formen umfassen Symptome wie dissoziative Amnesie und das Erleben mehrerer Identitäten. Dissoziation wird heutzutage als ein transdiagnostisches Symptom angesehen (Ellickson-Larew et al., 2020), wobei sie bei dissoziativen Störungen am ausgeprägtesten sind, dicht gefolgt von der Posttraumatischen Belastungsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung und Konversionsstörung (Lyssenko et al., 2018).

Dissoziative Störungen werden im DSM-5 beschrieben als „eine Störung und/oder eine Unterbrechung der normalen Integration von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, Emotionen, Wahrnehmung, Körperbild, Kontrolle motorischer Funktionen und Verhalten“ (American Psychiatric Association, 2015).[1] Es werden fünf Symptomcluster gemäß Steinbergs Fünf-Komponenten-Modell unterschieden (Steinberg, 1995): Depersonalisation, Derealisation, dissoziative Amnesie, Identitätsverwirrung, Fragmentierung der Identität. Diese Symptome werden als unerwünschte Beeinträchtigung des Bewusstseins und des Verhaltens erlebt. Die dissoziativen Störungen, wie sie im DSM-5 unterschieden werden (Dissoziative Identitätsstörung, Dissoziative Amnesie (ggf. mit Dissoziativer Fugue), Depersonalisations-/Derealisationsstörung, Andere näher bezeichnete Dissoziative Störung und die Nicht näher bezeichnete Dissoziative Störung), haben alle als Hauptmerkmal eine Störung in einem oder mehreren der fünf dissoziativen Symptomcluster. Um „imitierende“ Personen, die davon überzeugt sind, dass sie eine dissoziative Störung haben, aber in Wirklichkeit die diagnostischen Kriterien nicht erfüllen, von Personen mit dissoziativen Störungen zu unterscheiden, sind strukturierte klinische Interviews wie das SCID-D essentiell (Welburn et al., 2003). Das SCID-D weist eine gute Validität bei der Identifizierung von Personen mit dissoziativen Störungen und der Unterscheidung im Vergleich zu Personen ohne dissoziative Störungen, aber auch zur Unterscheidung von anderen psychiatrischen Störungen und vorgetäuschten dissoziativen Störungen auf (Mychailyszyn et al., 2021).

Dissoziative Störungen gehen mit einem starken Leidensdruck und hohen gesellschaftlichen Kosten einher: Menschen mit dissoziativen Störungen weisen bis zu 50 % mehr Einschränkungen in ihrer sozialen, beruflichen und interpersonalen Funktionsfähigkeit auf im Vergleich zu Menschen mit anderen psychischen Störungen (Johnson et al., 2006; Mueller-Pfeiffer et al., 2012). Darüber hinaus gibt es starke Zusammenhänge mit selbstverletzenden Verhaltensweisen und (multiplen) Suizidversuchen (Foote et al., 2008) sowie einem erhöhten Risiko eines frühen Todes (Galbraith & Neubauer, 2000). Dissoziative Störungen weisen eine hohe Komorbidität mit Traumafolgestörungen und Persönlichkeitsstörungen auf (Swart et al., 2020). Ihre Behandlungen zählen zu den längsten und teuersten in der Gesundheitsversorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen (Galbraith & Neubauer, 2000), was sich mutmaßlich wiederum auf die Wartezeit auf einen der begrenzten Therapieplätze auswirkt. In einer Onlinestichprobe von 276 Teilnehmenden mit selbstberichteten dissoziativen Symptomen schilderten tatsächlich 97 % von einer oder mehreren Barrieren beim Zugang zu einer Behandlung, wobei die am häufigsten genannten Barrieren strukturelle Hindernisse (z. B. mangelnde Verfügbarkeit von Behandlungsplätzen) waren (Nester et al., 2022).


Dissoziative Identitätsstörung (DIS)

Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist eine der prominentesten dissoziativen Störungen, aber bis heute auch eine der wohl umstrittensten Diagnosen in den Klassifikationssystemen für psychische Störungen. Bei kaum einer psychischen Störung wurde in der klinischen Psychologie so viel über deren Entstehung und Behandlung gestritten wie bei der DIS (Dalenberg et al., 2014; Giesbrecht et al., 2008; Gleaves, 1996; Lilienfeld et al., 1999; Lynn et al., 2014, 2022). Gemäß DSM-5 ist die DIS charakterisiert durch „a) das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Persönlichkeitszuständen oder einem Erleben von Besessenheit und b) wiederholten Episoden von Amnesie“ (American Psychiatric Association, 2015).[2] Sie ist somit die schwerste der dissoziativen Störungen und umfasst Symptome aus allen Symptomclustern. Besonders häufig und heftig wurde in kürzerer Vergangenheit über zwei Symptomcluster diskutiert: die Identitätsfragmentierung und die Dissoziative Amnesie. Die Identitätsfragmentierung umfasst das Gefühl einer deutlichen Diskontinuität des Bewusstseins des eigenen Selbst und Handelns (verbunden mit Veränderungen in der Wahrnehmung, im Affekt und Verhalten). Dissoziative Amnesie ist gekennzeichnet durch wiederkehrende Defizite bei der Erinnerung alltäglicher Ereignisse, wichtiger persönlicher Informationen und/oder traumatischer Ereignisse, die sich von einer gewöhnlichen Vergesslichkeit und Gedächtnislücken unterscheidet.[3] In diesem Zusammenhang berichten Patient*innen oft von Amnesie zwischen den verschiedenen Persönlichkeitszuständen, was als Interidentitätsamnesie bezeichnet wird.

In der US-amerikanischen Bevölkerung beträgt die Prävalenz der pathologischen Dissoziation 4,1 % (Simeon & Putnam, 2022). Die 12-Monats-Prävalenz der DIS wird in den USA auf 1,5 % geschätzt (American Psychiatric Association, 2022). Die Prävalenzschätzungen dissoziativer Störungen unter psychiatrischen Patient*innen in den USA variieren je nach untersuchter Population und verwendeten Messinstrumenten zwischen 5 % und 29 % (Foote et al., 2006). In europäischen Studien wurden unter psychiatrischen Patient*innen niedrigere Zahlen gefunden, z. B. wurde in den Niederlanden eine Prävalenz von 2 % für DIS unter stationären Patient*innen berichtet (Friedl & Draijer, 2000). Es gibt relativ wenig Forschung zum Verlauf dissoziativer Störungen, insbesondere gibt es keine prospektiven longitudinalen Studien zum Verlauf zur DIS. Patient*innen berichten retrospektiv häufig, dass die ersten Symptome der DIS in der frühen Kindheit zwischen fünf und acht Jahren auftraten (Loewenstein & Putnam, 1990; Sar et al., 1996; Stern, 1984). Die DIS scheint einen chronischen und fluktuierenden Verlauf zu nehmen, wobei die Schwere der Symptome und funktionellen Einschränkungen sowie die Beeinträchtigungen in der Lebensqualität je nach Kontext variieren (Kluft, 1991). Außerdem zeigt sich, dass Patient*innen mit DIS oft schon mehrere Jahre in der psychiatrischen Versorgung wegen verschiedener Beschwerden behandelt wurden und häufig mehrere andere Diagnosen erhalten haben, bevor die Diagnose DIS gestellt wird (Hunter et al., 2017). Auch wenn dissoziative Störungen in der klinischen Praxis viel häufiger bei Frauen als bei Männern diagnostiziert werden (Foote et al., 2006; Friedl & Draijer, 2000), treten selbstberichtete dissoziative Symptome in der allgemeinen Bevölkerung bei Männern und Frauen gleichermaßen häufig auf (Sar, 2011). Es ist unklar, ob dissoziative Störungen und Besessenheitsphänomene in ähnlichem Maße in verschiedenen Kulturen und Ländern vorkommen (Krüger, 2021; Pope et al., 2007). Die Prävalenzraten variieren zwischen Ländern aufgrund unterschiedlicher Messinstrumente (Selbstbericht vs. halbstrukturierte Interviews), der Vertrautheit von Kliniker*innen mit dissoziativen Symptomen und dem Maß der Akzeptanz und Diskussion über dissoziative Störungen. Zusätzlich kann sich die klinische Manifestation dissoziativer Störungen zwischen Kulturen unterscheiden, was jedoch nur begrenzt untersucht wurde (Dorahy et al., 2014).

Die Kombination aus hohem Leidensdruck der Betroffenen, hohen Kosten für das Gesundheitssystem und häufigen Barrieren in der Behandlung stellt eine Herausforderung für die Versorgung dieser Patient*innengruppe dar. Zusätzlich kursieren beharrliche Irrtümer über die DIS in der Öffentlichkeit und auch der Versorgung. Auch lässt sich eine Entkoppelung von psychologischer Forschung und klinischer Praxis feststellen: Empirisch nicht unterstützte, mit wenig mehr als subjektiver Erfahrung begründete Annahmen über die Psychopathologie und Konzepte zur Behandlung der DIS existieren scheinbar gleichberechtigt neben Ergebnissen empirischer Forschung, oft ohne dass selbst diametrale Widersprüche aufgelöst werden. Dieser „Research-Practice-Gap“ kann sich zulasten von Betroffenen auswirken (Herzog et al., 2023; Lilienfeld et al., 2013), da im Zweifel keine erfolgversprechenden Behandlungen (z. B. neu entwickelte und wissenschaftlich untersuchte Interventionen) angeboten werden, sondern die Betroffenen im besten Fall weiterhin die gewohnte Versorgung (z. B. stabilisierungsorientierte Behandlungen ohne Fokus auf Symptomverbesserung) erhalten, schlimmstenfalls sogar potenziell schädliche, symptomverschlimmernde Therapien (z. B. suggestive Techniken, welche „alter”-Persönlichkeiten induzieren können) durchgeführt werden (Lilienfeld, 2007). Trotz der beeindruckend nachgewiesenen Effektivität der Expositionstherapie zur Behandlung der PTBS (McLean et al., 2022) zeigt sich beispielsweise, dass wahrgenommene Hindernisse – wie die Angst vor einer Verschlimmerung der Symptome oder einem Therapieabbruch – negativ mit der empfundenen Eignung einer Expositionstherapie insbesondere bei Patient*innen mit multiplen Kindheitstraumata zusammenhängen (van Minnen et al., 2010).

Im Folgenden sollen die aus unserer Sicht wichtigsten Fehlannahmen in der klinischen Praxis aufgegriffen und mit der empirischen Forschung dazu kontrastiert werden.


Häufige Irrtümer in der klinischen Praxis

1. Traumata sind immer die Ursache einer dissoziativen Identitätsstörung

Häufig wird die DIS zu den Traumafolgestörungen gezählt. Traumatische Erfahrungen sind jedoch keine Voraussetzung für die Klassifikation einer DIS. Retrospektive Studien zeigen zwar, dass sexueller Missbrauch (86 %), physischer Missbrauch (79 %) und emotionaler Missbrauch (94 %) in der frühen Kindheit häufig von DIS-Patient*innen berichtet werden (Brand et al., 2009). Allerdings mangelt es bisher an hochwertigen Längsschnittstudien (z. B. unter Einbezug objektiver Daten zur Traumageschichte und ausführlicher Diagnostik), die einen kausalen Effekt traumatischer Ereignisse auf dissoziative Beschwerden feststellen könnten. Zusätzlich können Faktoren wie Pseudoerinnerungen eine Rolle bei den Prävalenzraten von selbstberichteten traumatischen Ereignissen spielen (Merckelbach & Muris, 2001). Im Zusammenhang mit Fehlbehandlungen (z. B. unter Einsatz von „Recovered-Memory“-Techniken) durch (therapeutisch induzierte) falsche Erinnerungen („false memories“) (Lilienfeld, 2007) erscheint insbesondere die DIS als „Einfallstor für Suggestion“ (Fegert & Urbaniok, 2024). Auch wenn solche falschen Erinnerungen im Allgemeinen zwar vermutlich eher selten vorkommen (Schemmel et al., 2024), ist es daher bei der DIS besonders wichtig, nicht (zu detailliert) danach zu fragen, wenn die Person diese Erfahrungen nicht von selbst anspricht, um das Risiko der Suggestion zu minimieren. Empfehlungen zur Minimierung des Risikos der Entstehung falscher Erinnerungen („false memories“) in der klinischen Praxis sind in der Tabelle 1 dargestellt.

Stellen Sie wie folgt sicher, dass das Risiko der Entstehung falscher Erinnerungen so gering wie möglich ist:

  • Stellen Sie niemals suggestive Fragen (inkl. Vorschläge, was passiert sein könnte)!

  • Stellen Sie keine geschlossenen, sondern offene Fragen!

  • Schließen Sie nicht von Beschwerden, Körperhaltungen oder körperlichen Empfindungen auf traumatische Ereignisse!

  • Manche Patient*innen vermuten, dass sie missbraucht wurden, haben aber keine konkreten Erinnerungen. Gehen Sie nicht auf den Wunsch der*des Patient*in ein, die Therapie zu nutzen, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist!

  • Seien Sie sich der Tatsache bewusst, dass das Gedächtnis (re)konstruktiv und keine objektive Darstellung der Realität ist!

  • Seien Sie sich bewusst, dass intensive Emotionen beim Erinnern oder die feste Überzeugung, dass es so geschehen ist, nicht bedeuten, dass es deshalb wahr sein muss.

Achten Sie auf falsche Erinnerungen, wenn der*die Patient*in:

  • von traumatischen Erinnerungen aus der präverbalen Phase berichtet (bei den meisten vor dem dritten Lebensjahr).

  • traumatische Erinnerungen erst im Verlauf der Therapie entwickelt hat.

  • während der Therapie immer wieder von neuen traumatischen Situationen berichtet, die zunehmend absurd oder unwahrscheinlich erscheinen.

Tabelle 1: Empfehlungen zur Minimierung des Risikos der Entstehung falscher Erinnerungen („false memories“) in der klinischen Praxis (persönliche Kommunikation mit Ineke Wessel und Agnes van Minnen)

Stellen Sie wie folgt sicher, dass das Risiko der Entstehung falscher Erinnerungen so gering wie möglich ist:

  • Stellen Sie niemals suggestive Fragen (inkl. Vorschläge, was passiert sein könnte)!

  • Stellen Sie keine geschlossenen, sondern offene Fragen!

  • Schließen Sie nicht von Beschwerden, Körperhaltungen oder körperlichen Empfindungen auf traumatische Ereignisse!

  • Manche Patient*innen vermuten, dass sie missbraucht wurden, haben aber keine konkreten Erinnerungen. Gehen Sie nicht auf den Wunsch der*des Patient*in ein, die Therapie zu nutzen, um herauszufinden, was wirklich geschehen ist!

  • Seien Sie sich der Tatsache bewusst, dass das Gedächtnis (re)konstruktiv und keine objektive Darstellung der Realität ist!

  • Seien Sie sich bewusst, dass intensive Emotionen beim Erinnern oder die feste Überzeugung, dass es so geschehen ist, nicht bedeuten, dass es deshalb wahr sein muss.

Achten Sie auf falsche Erinnerungen, wenn der*die Patient*in:

  • von traumatischen Erinnerungen aus der präverbalen Phase berichtet (bei den meisten vor dem dritten Lebensjahr).

  • traumatische Erinnerungen erst im Verlauf der Therapie entwickelt hat.

  • während der Therapie immer wieder von neuen traumatischen Situationen berichtet, die zunehmend absurd oder unwahrscheinlich erscheinen.

Tabelle 1: Empfehlungen zur Minimierung des Risikos der Entstehung falscher Erinnerungen („false memories“) in der klinischen Praxis (persönliche Kommunikation mit Ineke Wessel und Agnes van Minnen)

Trotz der unklaren Rolle traumatischer Ereignisse als Auslöser ist nicht davon auszugehen, dass diese die Entstehung einer DIS nicht begünstigen können. Als Prognose- und Risikofaktoren werden derzeit sowohl neurobiologische Merkmale als auch Umweltfaktoren diskutiert. Die Forschung zur neurologischen Basis dissoziativer Beschwerden steckt allerdings noch in den Kinderschuhen (Blihar et al., 2020; Roydeva & Reinders, 2021), wobei vermutlich verschiedene neuronale Signaturen je nach Symptomkonstellation, statt wenige distinkte Hirnregionen für die Unterschiede verantwortlich sind (Lotfinia et al., 2020). Eine strukturelle MRT-Studie mit DIS-Patient*innen schlägt ein durch Traumatisierung bedingtes, verringertes CA1-Hippocampus-Volumen als potenziellen Biomarker für dissoziative Amnesie vor (Dimitrova et al., 2023). Diese Studie hat jedoch, neben anderen Schwächen, keine objektiven kognitiven Messungen dissoziativer Amnesie eingeschlossen und fand einen signifikanten Effekt auch nur für emotionale Vernachlässigung als eine Facette von Missbrauchserfahrung (Huntjens et al., 2022), der wiederum mit vorherigen Studien des in Teilen selben Datensatzes inkonsistent ist (Chalavi et al., 2015a, 2015b). Kürzlich konnten einzigartige Konnektivitätsmarker identifiziert werden, die die DIS mit dem zentralen exekutiven Netzwerk (engl.: „central executive network (CEN)“) in Verbindung bringen (Lebois et al., 2022), was auf Veränderungen in den exekutiven Funktionen bei DIS-Patient*innen hindeuten könnte. Auch wenn Zwillingsstudien zeigen konnten, dass ein beträchtlicher Teil der Variationen dissoziativer Phänomene genetisch bedingt ist, scheinen in der Tat bei pathologischer Dissoziation Umweltfaktoren allgemein eine größere Rolle zu spielen (Becker-Blease et al., 2004; Jang et al., 1998). Dies beinhaltet allerdings eine deutlich größere Bandbreite als lediglich Traumata, sondern auch beispielsweise dissoziative Symptome bei Angehörigen. Hinzu kommen die emotionale Verfügbarkeit, mangelnde Beteiligung, Rollenumkehr und desorganisierte sowie widersprüchliche Reaktionen von Angehörigen (insbesondere nahestehende Bezugspersonen). Tatsächlich zeigte sich, dass ein desorganisierter Bindungsstil in der Kindheit ein prädiktiver Faktor für dissoziative Symptome im frühen Erwachsenenalter ist (Carlson, 1998). Dieser Bindungsstil ist gekennzeichnet durch Verhaltensweisen, die stark den dissoziativen Phänomenen ähneln, wie Erstarren, Verwirrung oder Trance und Tagträume. Neben den genannten dissoziativen Symptomen kann der desorganisierte Bindungsstil auch zu einer Unfähigkeit beitragen, Strategien zum Trost und Schutz zu entwickeln, sowie zur Unfähigkeit führen, widersprüchliche emotionale Zustände zu integrieren (Liotti, 2004).

Im Zusammenhang mit Traumata wird die DIS auch in Verbindung mit ritueller (sexueller) Gewalt gebracht. Ein Teil der Patient*innen mit DIS (Schröder et al., 2020a; Schröder et al., 2018) und zuweilen auch ihre Behandelnden (Fliß & Igney, 2010; Nick et al., 2019) sind davon überzeugt, dass diese Subgruppe von Patient*innen rituellen (sexuellen) Missbrauch in einem organisierten (satanistischen) Netzwerk erlebt haben (Behrendt et al., 2020). Abgesehen von den Berichten der Opfer oder Schilderungen der Psychotherapeut*innen (Schröder et al., 2020b) finden sich keine Hinweise dafür aus anderen Quellen. In einer kritischen Auseinandersetzung mit den angeführten empirischen Belegen aus einer Online-Befragung von selbstdefinierten Betroffenen ritueller Gewalt (Nick et al., 2018) wurde festgehalten, dass die Angaben über erlittenen rituellen sexuellen Missbrauch alternativ durch suggestive Prozesse erklärbar sind, es keine belastbaren Belege für Phänomene wie die intentionale Persönlichkeitsspaltung vorliegen und die Angaben sowohl zur Amnesie als auch zum Wiedererinnern gedächtnispsychologisch unplausibel erscheinen (Mokros et al., 2024). Auf eine ausführliche Diskussion dieses Themas wird aufgrund seiner Komplexität an dieser Stelle verzichtet. Ein eigenständiger Beitrag zu rituellem Missbrauch ist jedoch in Vorbereitung.

2. Das strukturelle Dissoziationsmodell liefert die beste Erklärung für die Dissoziative Identitätsstörung

Die Forschungsgeschichte zur Ätiologie der DIS ist seit nunmehr 30 Jahren teilweise durch radikale Positionen und kontrovers geführte Debatten gekennzeichnet, insbesondere zwischen den Anhänger*innen und Gegner*innen der Traumatheorie (d. h. der Erklärung von Dissoziation durch traumatische Lebensereignisse) (Dalenberg et al., 2012, 2014; Lynn et al., 2014). Auf theoretischer Ebene können heutzutage insgesamt vier Erklärungsmodelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der DIS unterschieden werden: das posttraumatische Modell bzw. Traumamodell (Dalenberg et al., 2012) und das soziokognitive Modell (Giesbrecht et al., 2008; Lynn et al., 2019; Spanos, 1994), die beide lange um Aufmerksamkeit und empirische Unterstützung konkurrierten, sowie das Schema-Modus-Modell (Huntjens et al., 2019, 2020) und das transtheoretische Modell (Lynn et al., 2022), die kürzlich aufgrund von aktuellen empirischen Befunden entwickelt wurden.

Das posttraumatische Modell ist ein Stress-Diathese-Modell, welches eine direkte Beziehung zwischen schwerem frühkindlichem Trauma (wie chronische Misshandlung, Missbrauch und/oder Vernachlässigung durch Menschen, von denen die Person als Kind abhängig war) und dem Auftreten von dissoziativen Beschwerden postuliert, insbesondere bei Individuen mit einer prädisponierenden (erblichen) Neigung zur Dissoziation (Dalenberg et al., 2012). Dissoziative Reaktionen werden in diesem Modell als erlernter Bewältigungsmechanismus für das Überleben langanhaltender traumatischer Erfahrungen in der Kindheit, die mit Angst, Schmerz und kognitiver Dissonanz verbunden waren, betrachtet (Dalenberg et al., 2012). Eine spezifische Form des posttraumatischen Modells ist das strukturelle Dissoziationsmodell, das von einer strukturellen Aufteilung der Persönlichkeit in mehrere „kompartmentalisierte Identitäten“ ausgeht. Diese Identitäten sind durch dissoziative Amnesie gekennzeichnet (d. h. Lücken im Gedächtnis für Ereignisse, die stattgefunden haben, wenn eine andere Identität die Kontrolle über das Verhalten übernommen hat) (Nijenhuis & Van Der Hart, 2011).

Das soziokognitive Modell hingegen geht nicht von einer direkten Beziehung zwischen Traumata in der Kindheit und Dissoziation aus, sondern erklärt dissoziative Symptome durch soziale, kognitive und kulturelle Ursachen (Giesbrecht et al., 2008; Lynn et al., 2019; Spanos, 1994): Dieses Modell nimmt an, dass Patient*innen unter dem Einfluss von Informationen aus den Medien (einschließlich Serien, Websites, Filmen und Büchern), soziokulturellen Überzeugungen (z. B. DIS ist eine akzeptierte Form zur Äußerung psychischer Probleme) und suggestiven Techniken von Therapeut*innen (v. a. Vermutung eines zugrundeliegenden Traumas, Vorstellung verschiedener Persönlichkeitszustände, wiederholte Fragen) daran glauben, dass sie aus mehreren Identitäten bestehen. Dies betrifft insbesondere Patient*innen, die nach Erklärungen für emotionale Instabilität, Identitätsprobleme und impulsives Verhalten suchen, d. h. Merkmale, die häufig bei Patient*innen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung auftreten (Lilienfeld et al., 1999; Lynn et al., 2012). Von Befürworter*innen des posttraumatischen Modells wird dieses Modell manchmal polemisch als „Fantasiemodell“ bezeichnet, wobei dieser Begriff weder den Kern noch den Umfang des Modells widerspiegelt. In neueren Formulierungen dieser Modelle lassen sich auch Gemeinsamkeiten (z. B. Annahmen zur multifaktoriellen Entstehung durch genetische Veranlagung, dysfunktionale Familienbeziehungen, negative Kindheitserfahrungen und ein Mangel an sozialer Unterstützung) finden (Dalenberg et al., 2014; Lynn et al., 2014).

Ein neues (dimensionales) Modell ist das Schema-Modus-Modell für die DIS (Huntjens et al., 2019, 2020). Nach dem Schema-Modus-Modell entsteht Persönlichkeitspathologie durch die Interaktion zwischen genetischer Verwundbarkeit, Temperament und Umweltfaktoren wie Vernachlässigung oder Traumatisierung in der Kindheit (Young et al., 2003). Das Schema-Modus-Modell geht nicht von kompartmentalisierten Identitäten und Interidentitätsamnesie aus, sondern erklärt dissoziative Symptome durch den häufigeren (oft abrupten und extremen) Wechsel zwischen verschiedenen Repertoires erlernter Erlebens- und Verhaltensweisen in bestimmten Umweltkontexten („Modi“) bei gleichzeitiger starrer „Modihaftigkeit“ (d. h. klar abgegrenzte und kaum auslenkbare Modi). Die Annahme wird durch eine Studie von van der Linde et al. (2023) unterstützt, die zeigen konnte, dass die Werte von Menschen mit DIS in maladaptiven Persönlichkeitsmerkmalen und Schemata denen von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und Vermeidender Persönlichkeitsstörung stark ähneln: Häufig vorkommende Modi bei Menschen mit dissoziativen Störungen sind jene, die mit Vernachlässigung und Misshandlung in Verbindung stehen (das „verletzliche Kind“), die mit Selbstabwertung verbundenen kritischen Modi und insbesondere verschiedene vermeidende Bewältigungsmodi (van der Linde et al., 2023).

Das multifaktorielle, transdiagnostische und transtheoretische Modell ist eine umfassende Synthese aus vorherigen ätiologischen Forschungsbemühungen und postuliert, dass dissoziative Störungen als Fehlfunktionen normalerweise adaptiver Systeme und Funktionen verstanden werden können. Es berücksichtigt potenziell interaktive Variablen wie Schlafstörungen, beeinträchtigte Selbstregulation, gestörte Hemmung negativer Kognitionen und Affekte, Hyperassoziation und Set-Shifts sowie Defizite in der Realitätsprüfung, Kausalattribution und Metakognition (Lynn et al., 2022). Ein Fallbericht gibt erste Hinweise darauf, dass das transtheoretische Modell inzwischen auch Einzug in die Behandlung der DIS in Deutschland erhält (Kratzer et al., 2023).

3. Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistung erklären dissoziative Amnesie

Das Traumamodell, insbesondere das strukturelle Dissoziationsmodell, geht davon aus, dass es sogenannte abgespaltene Identitäten gibt, die durch eine Amnesie zwischen den Identitäten (Interidentitätsamnesie) gekennzeichnet sind. Empirische Forschung zu Gedächtnisfunktionen hat jedoch wiederholt gezeigt, dass diese Annahme nicht korrekt ist: Frühe Studien zur Untersuchung von dissoziativer Amnesie untersuchten Korrelate mit selbstberichteter Amnesie, schlossen allerdings keine tatsächlichen Gedächtnisaufgaben ein. In gedächtnispsychologischen Studien, die objektive Aufgaben zur Messung der Interidentitätsamnesie verwendet haben, konnte keine überzeugende Evidenz dafür gefunden werden, dass die subjektiv berichtete Amnesie mit einer objektivierbaren Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung einher ging (Huntjens et al., 2003). Es wurde dabei ein Wissenstransfer zwischen Identitäten festgestellt, der sowohl bei neutralen als auch bei selbstrelevanten und traumabezogenen Informationen stattfand (Huntjens et al., 2003; Marsh et al., 2018, 2021). Bemerkenswert ist, dass dieser Informationstransfer nicht nur bei impliziten Gedächtnisaufgaben, sondern auch bei expliziten Gedächtnisaufgaben zu beobachten ist, wobei sich letztere auf die bewusste Erinnerung an frühere Erfahrungen beziehen. Stattdessen wird die subjektiv erlebte Amnesie besser durch dysfunktionale metakognitive Überzeugungen über das Gedächtnis erklärt. Diese werden durch die Vermeidung interner und externer traumabezogener Reize aufrechterhalten: Eine Studie fand, dass es vor allem dysfunktionale Überzeugungen im Zusammenhang mit Furcht vor Gedächtnisabruf (z. B. „Es ist besser, schmerzhafte Erlebnisse zu vergessen.“) sind, die Patient*innen davon abhalten könnten, traumabezogene Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis abzurufen (z. B. Angst, die Kontrolle zu verlieren oder „verrückt zu werden“) (Huntjens et al., 2023). Für die Praxis bedeutet dieser Befund jedoch nicht, dass es keine Beachtung der subjektiv erlebten Amnesie bei Individuen mit DIS gibt; diese sollte in der Psychotherapie validiert und anerkannt werden. Es scheint sich dabei jedoch eher um eine Interidentitätsvermeidung (statt einer objektivierbaren Interidentitätsamnesie) zu handeln (Dimitrova et al., 2024; Huntjens et al., 2014, 2023). Dieser Perspektivwechsel im Verständnis der dissoziativen Amnesie mutet wie ein Detail an, hat aber potenziell wichtige Implikationen für die psychotherapeutische Behandlung: Vermeidungsverhalten im Zusammenhang mit dissoziationsbezogenen Metakognitionen über das Gedächtnis kann, im Gegensatz zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung der Gedächtnisleistung, gemeinsam mit Patient*innen als verständlich, aber einschränkend begriffen und mit gut ausgearbeiteten Techniken verändert werden.

4. Symptomprovokationsstudien sind eindeutige Beweise für das DIS-Identitätskriterium nach DSM-5

Eine Symptomprovokationsstudie (Reinders et al., 2016) untersuchte mögliche funktionale Unterschiede im Gehirn von Menschen mit DIS. In dieser Studie gaben die Teilnehmenden zunächst Informationen über ein traumatisches und ein neutrales Ereignis in ihrem Leben. Anschließend wurden verschiedene physiologische Messungen wie Herzfrequenz und Blutdruck und bildgebende Techniken verwendet, um ihre Reaktion zu messen, während sie Aufnahmen über diese Ereignisse anhörten. Es wurde festgestellt, dass Menschen mit DIS in verschiedenen Identitäten unterschiedlich reagieren. In einem Zustand, in dem die Person angab, Erinnerungen an das traumatische Ereignis zu haben, reagierte sie emotionaler auf die Aufnahme dieses Ereignisses als in einer Identität, in der die Person keine Erinnerungen angab. Auch wenn von einigen Forscher*innen diese Befunde als neurobiologische Evidenz für die Interidentitätsamnesie herangezogen wurden, sind die Ergebnisse dieser Studie nur schwer zu interpretieren und stimmen theoretisch neben dem posttraumatischen Modell (bzw. strukturellen Dissoziationsmodell) auch mit dem soziokognitiven Modell und Schema-Modus-Modell überein. Tatsächlich sind sie nicht als Beweis zulässig, da keine objektiven Gedächtnisaufgaben verwendet wurden und nicht klar ist, ob die Teilnehmenden der Aufnahme zuhörten oder ob sie als Vermeidungsstrategie in einer oder beiden Identitätszuständen an etwas anderes dachten.

Die Ergebnisse können auch nicht als Beweis für das Erleben von Traumata in der Vergangenheit angeführt werden, da sich gezeigt hat, dass der Glaube, traumatisiert worden zu sein, emotionale Reaktionen hervorrufen kann, die denen ähneln, die durch die Erinnerung an ein Trauma (z. B. ein Gefecht) ausgelöst werden. Beispielsweise wurden in Studien vergleichbar intensive Emotionen inklusive psychophysiologischer Reaktionen auch bei Menschen beobachtet, die überzeugt sind, von Außerirdischen entführt worden zu sein (McNally et al., 2004; McNally & Clancy, 2005), obwohl dieses Ereignis höchst unwahrscheinlich ist. Es scheinen eher quasi-spirituelle Beweggründe dahinterzustehen, warum manche Menschen die Identität eines von Außerirdischen Entführten annehmen (McNally, 2012). Bereits durch die Manipulation von Erwartungen lassen sich auch unterschiedliche psychophysiologische Erregungsmuster bei Reaktionen auf belastendes Filmmaterial erzielen (Bruce et al., 2023). Die Reaktionen spiegeln daher eher die emotionale Bedeutung eines Ereignisses und die Erwartungen an die eigenen Reaktionen wider statt der Erinnerung an ein tatsächlich stattgefundenes Ereignis per se.

5. Die Dissoziative Identitätsstörung ist nicht wie die anderen psychischen Störungen und muss dementsprechend unterschiedlich behandelt werden

Im Rahmen der Behandlung von dissoziativen Störungen im Allgemeinen und der DIS im Spezifischen gibt es viel Diskussion in der Praxis, die teilweise durch den Mangel an soliden empirischen Daten für psychosoziale Interventionen (Ganslev et al., 2020), aber ebenso medikamentösen und biologischen Interventionen (Sutar & Sahu, 2019) aufrechterhalten wird. Auch wenn evidenzbasierte Leitlinien für die Behandlung der DIS nach wie vor nicht verfügbar sind, gibt es eine Reihe an psychotherapeutischen Behandlungen, deren Evidenz im Folgenden vorgestellt wird.

Das Behandlungsangebot für die DIS bestand bis vor wenigen Jahren hauptsächlich aus einer praxisbasierten, psychodynamisch fundierten Psychotherapie in drei Phasen (International Society for the Study of Trauma and Dissociation, 2011). Die erste Phase dieses Ansatzes konzentriert sich auf Stabilisierung, Reduktion der dissoziativen Symptome und das Erlernen von Fertigkeiten (wie interne Kommunikation, Grounding-Techniken und Emotionsregulation). Die zweite Phase zielt, nach ausreichender Stabilisierung, auf Traumaverarbeitung ab: Hierbei nutzen einige Behandelnde zur Verarbeitung und Integration traumatischer Erinnerungen die Technik der geleiteten Synthese („guided synthesis”), die auf der Theorie der strukturellen Dissoziation basiert (Steele et al., 2021). Die zugrunde liegende Annahme ist, dass einige Identitäten Erinnerungen an traumatische Ereignisse haben, während andere Identitäten davon nichts wissen oder diese nicht als autobiografisch betrachten. Das Ziel der geleiteten Synthese ist es, dass sich alle Identitäten an das Trauma erinnern können, einschließlich jener Identitäten, die zuvor amnestisch waren oder keine emotionalen Reaktionen fühlten (International Society for the Study of Trauma and Dissociation, 2011; Steele et al., 2017). Auch Formen von EMDR (z. B. die Knipe-Methode) werden im Rahmen dieses phasenbasierten Ansatzes zur Traumaverarbeitung bei Menschen mit dissoziativen Symptomen genutzt (International Society for the Study of Trauma and Dissociation, 2011). Die dritte und letzte Phase fokussiert auf die Integration der verschiedenen Persönlichkeitszustände und die Rehabilitation. Die Dauer dieser Behandlung ist oft lang: In einer Studie waren Patient*innen, die sich in der letzten (noch nicht abgeschlossenen) Behandlungsphase befanden, im Durchschnitt 8,4 Jahre (SD = 4,8) in Behandlung (Brand et al., 2009). Die Wirksamkeit (von Teilen) dieser Behandlung wurde in mehreren nicht kontrollierten Studien untersucht (Brand et al., 2009, 2013; Jepsen et al., 2014). Die Effekte der Behandlung auf dissoziative Symptome erwiesen sich als gering oder sogar vollständig abwesend. In der ersten randomisierten kontrollierten Studie zu dieser Behandlung führte die stabilisierende Gruppentherapie (zusätzlich zur Einzeltherapie) ebenso wie die Kontrollgruppe (Einzeltherapie allein) zwar zu einem verbesserten allgemeinen Funktionsniveau, aber nicht zu unmittelbar besseren Ergebnissen bei dissoziativen Beschwerden (Bækkelund et al., 2022). Darüber hinaus gibt es keine wissenschaftlichen Studien zur Wirksamkeit der Technik der geleiteten Synthese, bei der die verschiedenen Identitäten kontrolliert ihre traumatischen Erfahrungen teilen, während andere Identitäten angeben, dafür amnestisch zu sein. Auch die Grundannahme der Technik, dass dissoziierte Erinnerungen in einigen Identitäten zugänglich wären und in anderen nicht, wird durch empirisch-experimentelle Forschung der letzten 20 Jahre nicht unterstützt. Dagegen birgt diese Behandlungsmethode möglicherweise auch Risiken: Wie bereits beschrieben, sind Erinnerungen zwischen Identitäten für Menschen mit DIS tatsächlich zugänglich, auch wenn es sich um autobiografische und traumabezogene Erinnerungen handelt (Huntjens et al., 2012; Marsh et al., 2018), wobei eher dysfunktionale Überzeugungen über traumatische Erinnerungen (z. B. „Wenn ich mich an alle schlimmen Dinge aus meiner Vergangenheit erinnern würde, würde ich verrückt werden.“) dazu führen, dass Menschen ihr intaktes Gedächtnis nicht nutzen (Huntjens et al., 2022). Diese Annahme stimmt mit dem kognitiven-behavioralen Modell für Depersonalisation und Derealisation überein (Hunter et al., 2003, 2005). Es scheint daher sinnvoll, als Teil der Behandlung direkt an der Modifikation dieser dysfunktionalen Kognitionen zu arbeiten, anstatt sich auf die erlebte Fragmentierung der Identitäten einzulassen, mit dem Risiko, diese zu verstärken. Zudem könnte das Isolieren von Identitäten, „die die Realisierung des Traumas noch nicht verkraften könnten“, kontraproduktiv sein. Damit wird die dysfunktionale Kognition verstärkt, dass der*die Patient*in die Verarbeitung des Traumas (noch) nicht bewältigen kann, was Vermeidungsverhalten aufrechterhält, den*die Patient*in nicht dazu ermutigt, Selbstbestimmung und Kontrolle wiederzuerlangen (Herzog et al., 2023; Neuner, 2008) und die Behandlung unnötig in die Länge zieht.

In diesem Zusammenhang werden vermutlich auch suggestive Techniken eingesetzt. Obwohl schon 2007 „Recovered-Memory”-Techniken aufgrund ihres Potenzials zur Produktion von falschen Erinnerungen an das Trauma als wahrscheinlich schädliche Therapie eingestuft wurden (Lilienfeld, 2007), berichteten erst kürzlich in einer Umfrage von 258 Psychotherapeut*innen aus Deutschland die meisten von ihnen (78 %) über Fälle von Erinnerungswiederherstellung („Memory Recovery“) (Schemmel et al., 2024). In dieser Studie gaben außerdem die meisten Psychotherapeut*innen (82 %) an, Annahmen über nicht erinnerte Traumata zu haben, gleichwohl berichteten 83 % von ihnen, dass ein Teil ihrer Patient*innen diese Annahmen vertraten. Mehr als ein Drittel der Psychotherapeut*innen haben dabei mindestens einmal suggestiv-therapeutische Techniken angewandt, um vermutete traumatische Erinnerungen wiederherzustellen, wobei 10 % berichteten, dass sie bei den meisten Patient*innen von einem Trauma ausgingen und bei der Mehrheit der Versuche vermeintliche Erinnerungen wiederherstellten („recovered memories“). Psychodynamische Psychotherapeut*innen gaben insgesamt häufiger an, hinter den Symptomen ein Trauma zu vermuten, und stimmten mehr mit problematischen Ansichten über Trauma und Erinnerung überein (Schemmel et al., 2024). Neben solchen suggestiven Techniken und der Arbeit mit dissoziativen Persönlichkeitsanteilen sowie traumaspezifischen Stabilisierungsübungen (Nick et al., 2022), deren Evidenzlage im Hinblick auf das Nutzen-Risiko-Verhältnis wir bereits diskutiert haben, wenden einige Psychotherapeut*innen in der klinischen Praxis bei Menschen mit einer DIS, die von ritueller Gewalt berichten, außerdem die Deprogrammierung an (Rasch, 2019). Es gibt jedoch keine wissenschaftliche Basis für diesen weitgehend auf Anekdoten und spekulativen Annahmen beruhenden Ansatz, ganz zu schweigen von Wirksamkeitsforschung zu den daraus abgeleiteten Behandlungskonzepten. Die daraus abgeleiteten Behandlungsansätze sind möglicherweise schädlich, da sie teils ungeprüfte, teils nachweislich falsche Annahmen über die zu behandelnde Störung vermitteln.

In einer Onlinestichprobe berichteten 92 % der Teilnehmenden mit selbstberichteter dissoziativer Symptomatik, dass sie die Behandlung bei einem*einer Behandelnden – auch aufgrund einer schlechten therapeutischen Beziehung und der Skepsis der*des Behandelnden – abgebrochen haben (Nester et al., 2022). Daher ist es wichtig festzuhalten, dass es noch viel Raum für Verbesserungen in der Behandlung dieser Patient*innengruppe gibt. Kürzlich wurde das Behandlungsangebot daher um mehrere andere Therapiemöglichkeiten erweitert, deren Wirksamkeit bei Menschen mit dissoziativen Störungen aktuell untersucht wird und daher noch nicht abschließend geklärt ist. In einer Stichprobe von 62 stationären Patient*innen einer privaten psychiatrischen Einrichtung, die auf PTBS und dissoziative Störungen spezialisiert ist, erfüllten fast alle Teilnehmenden die ICD-11-Kriterien für komplexe PTBS, die DSM-5-Kriterien für den dissoziativen Subtyp der PTBS und die DSM-5-Kriterien für die DIS oder eine andere spezifizierte dissoziative Störung (Ross et al., 2024). Die Überschneidung mit verwandten Störungen wie PTBS und Persönlichkeitsstörungen scheint tatsächlich viel größer als bisher angenommen (van der Linde et al., 2023). Dies bedeutet auch, dass Behandlungen, die für diese beiden Gruppen von Patient*innen evidenzbasiert sind, möglicherweise mit Anpassungen auf DIS-Patient*innen angewendet werden können. Dazu zählen vor allem die kurze traumabezogene Behandlung, die Schematherapie und das Unified Protocol.

Die zentralen Annahmen einer kurzen traumabezogenen Behandlung bei Menschen mit DIS (van Minnen & Tibben, 2021) sind, dass DIS durch ein hohes Maß an Vermeidungsverhalten (Huntjens et al., 2014) und durch dysfunktionale Überzeugungen über Dissoziation und Gedächtnis (Huntjens et al., 2023) aufrechterhalten wird. Dissoziation wird hier als Vermeidungsverhalten begriffen und als solches in die Psychotherapie einbezogen. Patient*innen werden ermutigt, während der Konfrontation dissoziatives Vermeidungsverhalten abzubauen und sich traumatischen Erinnerungen auszusetzen, was gleichermaßen zu einer Revision dysfunktionaler Überzeugungen beitragen soll. Traumafokussierte Psychotherapien in der Behandlung von PTBS nach Kindesmissbrauch sind hoch wirksam (Ehring et al., 2014) und auch ohne Stabilisierungsphase sicher: Die Wirksamkeit einer traumafokussierten Behandlung, die auf Traumata in der frühen Kindheit abzielt, scheint sich nicht von der im Erwachsenenalter zu unterscheiden (Wagenmans et al., 2018). Weitere Studien zeigen zudem, dass sich dadurch nicht nur die PTBS-Kernsymptomatik reduziert, sondern sich auch andere Probleme (z. B. dissoziative Zustände, negative Grundannahmen oder interpersonelle Probleme) verringern (Hoeboer et al., 2020; Kolthof et al., 2022; Vliet et al., 2021; Zoet et al., 2021). Eine Stabilisierungsphase vor der Traumaverarbeitung brachte dabei keinen zusätzlichen Nutzen für die Behandlung von Menschen mit Beschwerden aufgrund früher Kindheitstraumata. Eine Stabilisierung scheint nicht nur nicht notwendig, sondern der Verzicht ist sogar auch kosteneffektiver (van Vliet et al., 2024). Obwohl die Annahme, dass Dissoziationen die Arbeit an traumatischen Erinnerungen ausschließt, empirisch untersucht wurde, fanden sich bisher keine Hinweise darauf, dass dispositionelle Dissoziation vor der Behandlung die Wirksamkeit von traumafokussierten Behandlungen moderiert (Halvorsen et al., 2014; Hoeboer et al., 2020). Auch wenn traumafokussierte Psychotherapie für PTBS ebenfalls bei Menschen mit (somatoformer) Dissoziation wirksam scheint (Hoeboer et al., 2020; Zoet et al., 2021), wurde die Wirksamkeit bei der DIS noch nicht direkt untersucht. Bisher wurden nur erste vielversprechende Fallstudien durchgeführt (van Minnen & Tibben, 2021).

Eine weitere Behandlungsmethode für DIS ist die Schematherapie, die auf dem zuvor beschriebenen Schema-Modus-Modell (d. h. Persönlichkeitszustände werden als wiederkehrende, rigide Schemamodi betrachtet) basiert. Studien bei Patient*innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung haben gezeigt, dass die Schematherapie zu einer Verringerung dissoziativer Symptome führt (Assmann et al., 2024; Giesen-Bloo et al., 2006). Die Ziele der Behandlung sind neben der Traumaverarbeitung die Förderung des gesunden erwachsenen Anteils und die Verbesserung der Kontrolle über andere dysfunktionale Modi (v. a. stark vermeidende Modi) bei gleichzeitiger Bearbeitung emotionaler Grundbedürfnisse. Ein aktuell untersuchter, schematherapeutischer Behandlungsansatz, der für Menschen mit DIS angepasst wurde, umfasst ein dreijähriges Programm sowie mehrere Auffrischungssitzungen (Huntjens et al., 2019, 2020). Eine Fallberichtsstudie deutet auf das Potential der Behandlung hin (Bachrach et al., 2023).

Eine weitere relativ neue Entwicklung ist die Anwendung des Unified Protocol (UP; deutschsprachig erschienen als „Transdiagnostische Behandlung emotionaler Störungen“, Barlow et al., 2019) für die DIS (Mohajerin et al., 2020). Das UP ist eine transdiagnostische, auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Prinzipien basierende Behandlung für Patient*innen mit emotionalen Störungen, die sich auf Grundlage des soziokognitiven bzw. inzwischen transdiagnostischen Modells der DIS auf Probleme mit der Emotions- und Selbstregulation konzentriert (z. B. Barlow et al., 2017). Zudem ist die Verbesserung des Schlafs ein Teil der UP-Behandlung für DIS, da eine Verbindung zwischen Schlafqualität und dissoziativen Erfahrungen nachgewiesen wurde (van Heugten-van der Kloet et al., 2015; van Heugten-van der Kloet et al., 2014). In einer Fallserie mit fünf Patient*innen mit DIS erfüllte nach Abschluss der UP-Behandlung und im 6-Monats-Follow-up keine*r der Patient*innen mehr vollständig die Kriterien für die DIS oder komorbide Angst- und Depressionserkrankungen (Mohajerin et al., 2020). Dies kann auch als Hinweis dafür gewertet werden, dass die gängigen Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie durchaus bei DIS Anwendung finden und zu Erfolgen führen können.

6. Behandelnde müssen die Identitäten zuerst anerkennen, um den*die Patient*in zu behandeln

Diese Sichtweise spiegelt die sog. Reifikation wider, bei der die psychologischen Zustände („states“) als tatsächlich existierende Personen („people“) betrachtet und dementsprechend als solche anerkannt werden. Obgleich solche direkten Übertragungen subjektiven Erlebens in vermeintlich objektive Tatsachen bei anderen Patient*innengruppen aus guten Gründen selten bis nie genutzt werden (z. B. anzuerkennen, dass eine anorektische Patient*in tatsächlich zu dick sei oder Wahnvorstellungen bei psychotischen Patient*innen tatsächlich die Realität widerspiegeln würden), hält sich diese Haltung bei der DIS hartnäckig. Eine solche DIS-orientierte Psychotherapie wurde aufgrund ihres Potenzials zur Induktion von „alter”-Persönlichkeiten als wahrscheinlich schädliche Therapie eingestuft (Lilienfeld, 2007). Das Behandlungskonzept der kurzen, traumafokussierten Intervention betrachtet „alter“-Persönlichkeiten als Teil des dissoziativen Vermeidungsverhaltens und zielt explizit darauf ab, diese zu „verabschieden“ (van Minnen & Tibben, 2021), ohne sie im Sinne einer Reifikation als Personen anzuerkennen. Neben Verfechter*innen der Schematherapie warnen auch Befürworter*innen des UP vor der Verwendung von Reifikationstechniken (Lynn et al., 2022), da die spezifische Reifikation von Zuständen eher mit einer Verschlimmerung der Symptome in Zusammenhang gebracht wird. Die therapeutische Herausforderung in der Praxis besteht daher in dem schmalen Grat zwischen der Anerkennung der subjektiven Erfahrungen der Patient*innen und der Verstärkung der Symptome der Identitätsfragmentierung durch Reifikation.

7. Social Media haben einen positiven Einfluss auf die Entstigmatisierung der Dissoziativen Identitätsstörung

Die DIS ist mit dissoziationsbedingter Scham (Dorahy et al., 2023) und einem wiederum erhöhten Stigmatisierungspotenzial (Reisinger & Gleaves, 2023) verbunden. Auch unter Behandelnden gibt es eine anhaltende und verbreitete Skepsis gegenüber der Validität der Diagnose: 50 % der Psychiater*innen in Frankreich glaubten, dass die DIS eine durch Kino, Medien oder soziale Netzwerke geschaffene Entität sei (di Marco et al., 2024). Die Nutzung von effektiven Wegen zur Entstigmatisierung der DIS in der breiten Öffentlichkeit und Versorgung sind daher wünschenswert. Social Media fördern das Bewusstsein für Fragen der psychischen Gesundheit, die Offenlegung davon und die Diskussion darüber, insbesondere unter Jugendlichen, und kann somit die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen wie der DIS, die Bereitstellung sozialer Unterstützung (auch unter Gleichaltrigen) und die Verbreitung von Informationen ermöglichen. So haben beispielsweise einige bekannte TikTok-Influencer*innen mit DIS eine große Anzahl von Anhänger*innen mit Hunderttausenden Klicks (Porter et al., 2024), welche großes Potenzial bieten. Gleichzeitig ist die Offenlegung der psychischen Gesundheit im Internet jedoch ein Katalysator für die Verbreitung von Fehlinformationen und Cybermobbing, neben den finanziellen Anreizen, die sich wiederum auf deren Inhalte auswirken können. Die TikTok-Accounts enthielten tatsächlich häufig Spendenlinks zu ihren Venmo- und PayPal-Konten (Porter et al., 2024). Tatsächlich treten in letzter Zeit massenhaft Jugendliche (sowohl online als auch in klinischen Einrichtungen) mit Symptomen insbesondere der DIS auf, die scheinbar durch das Betrachten von krankheitsbezogenen Inhalten, die von Influencer*innen in den sozialen Medien gepostet wurden, erworben wurden (Giedinghagen, 2023). Phänomene wie das der „sozialen Ansteckung“ wurden jüngst als mögliche Ursache für den in westlichen Gesellschaften sprunghaften Anstieg an Symptomberichten von bestimmten, bislang eher seltenen psychischen Störungen diskutiert (Haltigan et al., 2023). In einer Studie unter Nutzung von Natural Language Processing wurden die niedrigsten Werte für Sprachkohärenz (d. h. eine desorganisierte Sprache mit beeinträchtigtem Bedeutungsfluss in Sätzen) bei Nutzer*innen von Social-Media-Foren zur DIS festgestellt (Plank & Zlomuzica, 2024), wodurch fraglich erscheint, über welche Art von psychischer Störung zwischen welchen Beteiligten sich dort tatsächlich ausgetauscht wird. Dieser Entwicklung im Zusammenhang mit der erhöhten Social-Media-Nutzung, die u. a. zu einer Zunahme von DIS-ähnlichen Symptomberichten führt, sollte daher, auch in der Psychotherapie, mit gesundem Misstrauen begegnet werden und weitere Möglichkeiten zur Entstigmatisierung der DIS mit wissenschaftlich fundierten Fakten sollten eruiert werden. Für Psychotherapeut*innen erscheint es zudem sinnvoll, sich über den der Psychiatrie entlehnten Jargon dieser Communities informiert zu halten, da es sich nicht ausschließlich um Selbsthilfekreise handelt, sondern auch Fehlinformationen über DIS verbreitet werden, die den Therapieverlauf diagnostizierter, sich in Psychotherapie befindlicher Personen ungünstig beeinflussen könnte (Christensen, 2022).


Fazit

Forschung zur Entstehung und Behandlung dissoziativer Störungen im Allgemeinen und der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) im Spezifischen ist ein vernachlässigter Bereich innerhalb der klinischen Psychologie gewesen, obgleich der Leidensdruck der Betroffenen enorm hoch ist, die Beeinträchtigungen im Funktionsniveau, auch im Vergleich zu anderen psychiatrischen Störungen, gravierend sind und die Behandlungskosten über denen anderer psychischer Störungen liegen. In diesem Wissensvakuum haben sich hartnäckige Irrtümer über die DIS ausgebreitet, welche wir in dieser Arbeit aus wissenschaftlicher Sicht genauer unter die Lupe genommen haben. Insgesamt lässt sich festhalten, dass mehrere Jahrzehnte von Forschung zur DIS zu einem verbesserten psychopathologischen Verständnis zur Entstehung und Aufrechterhaltung geführt haben, wobei maladaptive Überzeugungen über die dissoziative Amnesie und Fragmentierung der eigenen Identität eine ebenso wichtige Rolle spielen wie das Verständnis von dissoziativen Symptomen als Vermeidungsverhalten. Durch diese Fortschritte wurde auch der Weg für die Anpassung von Behandlungsmethoden für die DIS geebnet, die sich als wirksam bei Menschen mit angrenzenden Problemen (z. B. PTBS und Persönlichkeitsstörungen) erwiesen haben. Dazu gehören die Anwendung bestehender evidenzbasierter Methoden zur Traumaverarbeitung, wie sie auch bei PTBS aufgrund von Kindheitstraumata angewendet werden, aber auch die Schematherapie und das Unified Protocol. Eine wichtige nächste Phase in der Erforschung der DIS besteht nun darin, die Wirksamkeit der genannten neuen Therapiemethoden systematisch in methodologisch gut konzipierten klinischen Studien zu untersuchen, um das Behandlungsangebot für diese unterversorgte Patient*innengruppe zu erweitern. Bei jeder Behandlung sollten jedoch – unabhängig von der angewandten Methode – sowohl spezifische Reifikation vermieden werden, um Symptome der Identitätsfragmentierung nicht zu verstärken, als auch suggestive Techniken, um das Risiko für die Entstehung falscher Erinnerungen (v. a. an traumatische Ereignisse) zu minimieren. Zusätzlich sollten potenziell schädliche Einflüsse von Social Media (z. B. Fehlinformationen über DIS) in der Psychotherapie von Menschen mit DIS berücksichtigt werden. Effektive, wissenschaftlich begleitete Entstigmatisierungsmaßnahmen zur DIS sollten von einer möglichst breiten Dissemination von empirisch gestütztem Wissen statt konventioneller Weisheiten über die Psychopathologie und Behandlung der DIS begleitet werden, um die Implementierung von evidenzbasierter Psychotherapie in der Versorgung von Patient*innen mit DIS voranzutreiben.


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Philipp Herzog
Dr. Philipp Herzog
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
Fachbereich Psychologie
Ostbahnstraße 10
76829 Landau
mail icon philipp.herzog@rptu.de

Dr. Philipp Herzog, Dipl.-Psych., PP (VT), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters am Fachbereich Psychologie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU). Nach mehrjähriger praktischer Tätigkeit in verschiedenen Ambulanzen und Kliniken, insbesondere mit Patient*innen mit trauma- und belastungsbezogenen, dissoziativen und Persönlichkeitsstörungen, liegen seine wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte vor allem in der Psychopathologie und Psychotherapie von Posttraumatischen Belastungsstörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen.

Tim Kaiser
Dr. Tim Kaiser

Dr. Tim Kaiser, M. Sc. Psych., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitseinheit Methoden und Evaluation/Qualitätssicherung der Freien Universität Berlin. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Evaluation und der Entwicklung von Monitoring- und Feedbacksystemen in der Psychotherapie, außerdem bei internetbasierten Interventionen und Forschungsmethoden.

Rafaële J. C. Huntjens
Prof. Dr. Rafaële J. C. Huntjens

Prof. Dr. Rafaële J. C. Huntjens ist Professorin für Experimentelle Klinische Psychologie mit besonderem Schwerpunkt auf traumabezogenen Störungen am Fachbereich für Klinische Psychologie und Experimentelle Psychopathologie der Universität Groningen (Niederlande). Sie ist außerdem Direktorin der Graduiertenschule einschließlich des Promotionsprogramms und des Forschungsmasters Verhaltens- und Sozialwissenschaften der Universität Groningen. Zudem war sie Mitglied des niederländischen nationalen Komitees zur Entwicklung klinischer Leitlinien für dissoziative Störungen und ebenso für trauma- und belastungsbezogene Störungen.

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Herzog, P., Kaiser, T. & Huntjens, R. J. C. (2025). Von hartnäckigen Fiktionen und unbequemen Wahrheiten über die Dissoziative Identitätsstörung: Ein Faktencheck aus wissenschaftlicher Perspektive. Psychotherapeutenjournal, 24 (1), 37–47. https://doi.org/10.61062/ptj202501.005