Entzugsreaktionen beim Absetzen von Antidepressiva
Eine kritische Übersichtsarbeit
Withdrawal reactions following antidepressant discontinuation
A critical review
verfasst von: Michael P. Hengartner & Andri Rennwald
Abstract
Zusammenfassung: Entzugsreaktionen von Antidepressiva werden seit einigen Jahren prominent und kontrovers diskutiert. Ziel dieser Übersichtsarbeit ist, dieses polarisierende Themengebiet kritisch und differenziert zu beleuchten. In einem kurzen historischen Rückblick zeigen wir auf, dass die wissenschaftliche Evidenz für Entzugssymptome beim Absetzen von Antidepressiva bis in die frühen 1960er-Jahre zurückreicht. Ab den späten 1990er-Jahren wurde die Entzugsproblematik jedoch stark bagatellisiert und negiert. Dies resultierte auch in der Einführung und Etablierung des irreführenden Begriffs Antidepressiva-Absetzsyndrom. Der Widerwille in weiten psychiatrischen Fachkreisen, Entzugsreaktionen beim Absetzen von Antidepressiva anzuerkennen und rigoros zu studieren, steht in Zusammenhang mit der problematischen Vermischung der pharmakologischen Konzepte der (körperlichen) Abhängigkeit und der Sucht. Weil Entzugsreaktionen auf dem neurophysiologischen Prozess der Abhängigkeit beruhen (d. h. Anpassungsprozesse), werden die Leser*innen auch in dieses wichtige Themenfeld eingeführt. Nachfolgend wird aufgezeigt, welche unterschiedlichen klinischen Manifestationen Antidepressiva-Entzugsreaktionen annehmen können, wie verbreitet sie sind und wie sie sich, nach heutigem Erkenntnisstand, vermeiden lassen bzw. wie sich die Symptomschwere mit spezifischen Ausschleichstrategien mildern lässt. Wir beschliessen diesen Übersichtsartikel mit kurzen Erläuterungen, warum es wichtig ist, dass Psychotherapeut*innen sich in diesem Themengebiet auskennen, und welche entscheidende Funktion sie einnehmen können, wenn ihre Patient*innen sich für das Absetzen von Antidepressiva entscheiden.
Summary: Withdrawal reactions from antidepressants have become a prominent and controversial topic in recent years. This narrative review aims to critically and carefully examine this polarizing area. In a brief historical overview, we show that scientific evidence of withdrawal symptoms following antidepressant discontinuation dates back to the early 1960s. However, from the late 1990s onward, the issue was largely downplayed and denied. This also led to the introduction and establishment of the misleading term „antidepressant discontinuation syndrome.” The psychiatric field’s reluctance to acknowledge and rigorously investigate withdrawal reactions is closely related to the problematic conflation of the pharmacological concepts of (physical) dependence and addiction. Because withdrawal reactions are based on the physiological process of dependence, we also introduce readers to this important distinction. We then describe the various clinical manifestations of antidepressant withdrawal reactions, their prevalence, and how they can be avoided—or how the severity of symptoms can be reduced through specific tapering strategies. We conclude by outlining why it is essential for psychotherapists to be familiar with this topic and what crucial role they can play when patients decide to discontinue their antidepressant medication.
Einführung
Antidepressiva-Entzugsreaktionen wurden in den letzten Jahren sowohl in akademischen Fachkreisen, unter Behandelnde, als auch in den Medien prominent diskutiert und dadurch einer weiten Öffentlichkeit bekannt (Davies et al., 2019; Hengartner et al., 2019; Palmer et al., 2023). Nach wie vor ist jedoch sehr wenig über den Antidepressiva-Entzug bekannt, die Forschungsrelevanz wird herabgemindert, es herrscht Uneinigkeit bezüglich der Begrifflichkeiten sowie der Schwere der Problematik, und stellenweise werden Antidepressiva-Entzugssyndrome sogar gänzlich negiert (Groot & van Os, 2020; Hengartner, 2022; Lugg, 2022; Massabki & Abi-Jaoude, 2021). Wir sind in Übereinstimmung mit anderen Autor*innen jedoch dezidiert der Meinung, dass dieses Thema in Forschung und Praxis sehr bedeutsam ist (Davies et al., 2019; Hengartner, 2020; Horowitz & Davies, 2024; Palmer et al., 2023). Und weil die Antidepressiva-Entzugsproblematik in psychiatrischen und allgemeinmedizinischen Fachkreisen oftmals verkannt oder bagatellisiert wird, kommt den Psychotherapeut*innen in der Aufklärung und Begleitung von Patient*innen eine wichtige Funktion zu (Fava & Belaise, 2018; Maund et al., 2019b).
In diesem Übersichtsartikel werden wir die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Antidepressiva-Entzugsreaktionen zusammentragen. Zuerst werden wir in einem kurzen historischen Rückblick aufzeigen, warum die Problematik oftmals verkannt, bagatellisiert oder sogar negiert wird. Danach klären wir über die wichtige konzeptuelle Differenzierung von (körperlicher) Abhängigkeit und Sucht auf. Als nächstes stellen wir eine etablierte Klassifikation der verschiedenen Entzugssyndrome vor und tragen die wenigen wissenschaftlichen Befunde zusammen, die wir zu Risiken, Prävalenz und Verlauf haben. Abschliessend berichten wir über Prävention und Intervention bei Antidepressiva-Entzugsreaktionen sowie über Implikationen für Psychotherapeut*innen.
Historischer Rückblick
In wissenschaftlichen Fachartikeln wurde bereits in den frühen 1960er-Jahren, kurz nach Markteinführung der ersten Antidepressiva, über Entzugssymptome beim Absetzen der Medikamente berichtet (Kramer et al., 1961; Shatan, 1966). Über die Jahre wurden immer weitere Fachartikel über Antidepressiva-Entzugssymptome publiziert: Sie wurden bei Kindern festgestellt (Law et al., 1981), die wissenschaftliche Evidenz wurde in Übersichtsartikeln zusammengefasst (Dilsaver & Greden, 1984), die möglichen neurophysiologischen Pathomechanismen wurden diskutiert (Dilsaver et al., 1987), und auch schwerwiegende Entzugssymptome beim Absetzen der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wurden berichtet (Bloch et al., 1995). Bis Ende der 1990er-Jahren wurde für diese Problematik konsistent der etablierte Fachbegriff „Entzugssymptomatik“ beziehungsweise „Entzugssyndrom“ verwendet. Als sich jedoch Mitte der 1990er-Jahre die Fachartikel über schwerwiegende Entzugssymptome beim Absetzen vom SSRI Paroxetin mehrten (Bloch et al., 1995; Frost & Lal, 1995; Pyke, 1995), fürchtete die Pharmaindustrie einen Imageschaden für die Klasse SSRI und deren führende Marktposition (Healy, 2010; Jureidini & McHenry, 2020).
Ein Pharmaunternehmen lancierte eine Kampagne, welche das Verständnis von Antidepressiva-Entzug nachhaltig verändern sollte und welche die Psychiatrie bis heute prägt. Diese Kampagne begann mit einem geschlossenen Symposium mit einer Gruppe führender Psychiatrieprofessoren mit langjährigen Pharmaverbindungen (Jureidini & McHenry, 2020; Massabki & Abi-Jaoude, 2021). Diese Gruppe wurde als „Discontinuation Consensus“-Gremium bezeichnet und führte im Jahr 1997 in einer vom Pharmaunternehmen gesponserten Sonderausgabe (Supplement) im Journal of Clinical Psychiatry den Begriff „Absetzsyndrom“ ein (Massabki & Abi-Jaoude, 2021). Dieser neue Begriff sollte fortan den etablierten Fachbegriff „Entzugssyndrom“ ersetzen, welcher stringent mit dem Konzept der (körperlichen) Abhängigkeit verknüpft ist (mehr dazu weiter unten). Um diesen neuen Begriff der weiten Fachwelt vorzustellen, wurde das Phänomen des „Antidepressiva-Absetzsyndroms“ in mehreren Artikeln der Sonderausgabe ausgiebig beschrieben. Darin wurde unter anderem betont, dass SSRI keine Abhängigkeit und Suchtverhalten verursachen würden und „Absetzsymptome“ zwar unangenehm sein können, jedoch keine schwerwiegende Problematik darstellen, da sie in den allermeisten Fällen mild und flüchtig sind und durch ein graduelles Ausschleichen vermieden werden können. Zudem wurde betont, dass Fluoxetin aufgrund seiner langen Halbwertszeit im Gegensatz zu den anderen Medikamenten nicht ausgeschlichen werden müsse (Lejoyeux & Adès, 1997; Rosenbaum & Zajecka, 1997; Schatzberg et al., 1997). Das Pharmaunternehmen führte zudem eine Serie von drei Placebo-kontrollierten Behandlungsunterbrechungsstudien durch, welche eindrücklich nachwiesen, dass eine abrupte drei- bis achttägige Unterbrechung der Medikation mit Paroxetin (sehr kurze Halbwertszeit) schwere und beeinträchtigende „Absetzsymptome“ verursachen kann, während dies mit Fluoxetin (sehr lange Halbwertszeit) nicht auftritt (Judge et al., 2002; Michelson et al., 2000; Rosenbaum et al., 1998).
Diese Kampagne war äusserst erfolgreich: Der Begriff „Absetzsyndrom“ verbreitete sich ab 1997 rasend schnell und verdrängte in der Antidepressiva-Literatur den etablierten Fachbegriff „Entzugssyndrom“ fast vollständig (Massabki & Abi-Jaoude, 2021). Insbesondere Psychiater*innen verwenden heutzutage fast ausschliesslich den Begriff Absetzsyndrom (beziehungsweise Absetzreaktion), obschon dieser Begriff in der Fachliteratur als irreführend bezeichnet wird (Lerner & Klein, 2019; Lugg, 2022; Massabki & Abi-Jaoude, 2021). Abgesehen davon, dass der Begriff das mitunter schwerwiegende Phänomen des körperlichen Entzuges bagatellisiert (bzw. ausblendet), ist er auch unpräzis. Denn Entzugssymptome können nicht nur beim Absetzen auftreten, sondern auch bei einer Dosisreduktion, bei der Verabreichung eines Antagonisten, oder wenn die Medikamenteneinnahme vergessen wurde (Lerner & Klein, 2019). Auch die getätigten Behandlungsempfehlungen wurden von der Fachwelt rasch übernommen und finden weiterhin breite Anwendung, obschon die Evidenzlage zu ihrer Wirksamkeit in der Fachliteratur wiederholt als unzureichend bezeichnet wurde (Haddad & Anderson, 2007; Wilson & Lader, 2015).
In Konsequenz wurde die Problematik von Antidepressiva-Entzugsreaktionen in medizinischen Fachkreisen lange Zeit unterschätzt (Hengartner et al., 2019). Noch vor wenigen Jahren negierten einige führende Akademiker*innen die Problematik gänzlich und erachteten Berichte zur weitreichenden Antidepressiva-Entzugsproblematik und der einhergehenden Schwierigkeiten zahlreicher Konsument*innen, ihre Medikamente erfolgreich abzusetzen, als uniformierte, stigmatisierende Angstmache (siehe beispielsweise: Perlis, 2018). Erfreulich ist deshalb, dass aktuelle wissenschaftliche Fachartikel sich wieder vermehrt mit der Problematik befassen und kritisch hervorheben, dass Antidepressiva-Entzugssymptome auch schwerwiegend und langwierig sein können (Palmer et al., 2023), selbst wenn in zahlreichen Arbeiten noch der inadäquate Begriff Absetzsyndrom verwendet wird (Bschor et al., 2022; Zwiebel & Viguera, 2022).
In der Gesundheitsversorgung und in der klinischen Praxis werden das Absetzen von Psychopharmaka und die einhergehenden Schwierigkeiten aber weiterhin unzureichend berücksichtigt (Boland et al., 2024; Cosci et al., 2023; Davies et al., 2023; Sorensen et al., 2022a). Entsprechend empfehlen viele Behandelnde ein zu rasches Ausschleichen mit zu hohen Dosisreduktionen, verkennen schwere und persistente Entzugssyndrome, weil „Absetzsyndrome“ als mild und flüchtig dargestellt wurden, oder können bei korrekter Identifikation keine wirksame Unterstützung anbieten, weil hierzu das Fachwissen fehlt (Groot & van Os, 2020; Guy et al., 2020; Moncrieff et al., 2024). Notgedrungen müssen viele Betroffene selbstständig im Internet nach Informationen über Entzugsreaktionen und Ausschleichstrategien suchen (Framer, 2021; Groot & van Os, 2020; White et al., 2021). Zwei der bedeutsamsten Forschenden in der Ära der „Absetzsyndrome“ – namentlich Professor David Taylor und Doktor Mark Horowitz – waren vor Beginn ihrer Forschungstätigkeit in diesem Themengebiet selbst von schweren und langwierigen Antidepressiva-Entzugssymptomen betroffen (Horowitz & Taylor, 2019, 2022a, 2023). Diesen beiden Forschern haben wir auch das erste klinisch-medizinische Fachbuch zum Absetzen von Antidepressiva und anderen Psychopharmaka zu verdanken (Horowitz & Taylor, 2024) – und dies erst über 60 Jahre, nachdem die Problematik erstmals in der Fachliteratur beschrieben wurde. Um das Ausschleichprozedere nachvollziehen zu können, müssen wir aber zuerst die neurophysiologischen Mechanismen erläutern, die den Entzugsreaktionen zugrunde liegen. Hierbei heben wir auch die fundamental wichtige Unterscheidung zwischen den Konzepten (körperliche) Abhängigkeit und Sucht hervor.
Abhängigkeit und Sucht
Nahezu alle psychoaktiven Substanzen, sowohl Drogen als auch Medikamente, die auf das zentrale Nervensystem (ZNS) einwirken, stoßen nach einigen Tagen oder Wochen kontinuierlicher Einnahme (je nach Substanz) körperliche Anpassungsprozesse an (Lerner & Klein, 2019; Reidenberg, 2011). Diese Prozesse beinhalten neurophysiologische Gegenregulationen zur pharmakologischen Wirkung der Substanz, bei SSRI insbesondere die Herabregulierung (Desensitivierung) von Serotonin-Rezeptoren aufgrund der Erhöhung der serotonergen Neurotransmission durch die kontinuierliche Medikamenteneinnahme (Gray et al., 2013; Haahr et al., 2014). Diese neurophysiologischen Anpassungen sind folglich eine normale körperliche Reaktion auf die kontinuierliche Einnahme von ZNS-wirksamen Substanzen, und der resultierende körperliche Zustand wird in der Pharmakologie und Suchtmedizin als (körperliche) Abhängigkeit definiert (American Academy of Pain Medicine et al., 2001; Horowitz & Taylor, 2023; Lerner & Klein, 2019; Miller et al., 1987). Der Verlust der psychoaktiven (oder klinischen) Wirkung einer Substanz bei gleichbleibender Dosis wird entsprechend als Toleranzentwicklung bezeichnet (Miller et al., 1987; Pietrzykowski & Treistman, 2008). Entzugssymptome wiederum sind die klinische Manifestation der (körperlichen) Abhängigkeit und entstehen, wenn die biologische Aktivität einer Substanz so weit nachlässt (beispielsweise durch eine Dosisreduktion), dass ein Ungleichgewicht zu den neurophysiologischen Anpassungen entsteht (American Academy of Pain Medicine et al., 2001; Horowitz & Taylor, 2023; Lerner & Klein, 2019).
Demgegenüber wird Sucht lediglich über ein Verhaltensmuster diagnostiziert, welches gekennzeichnet ist durch Verlangen nach der Substanz, unkontrolliert-impulsiver Substanzeinnahme sowie anhaltendem Substanzkonsum trotz negativer Konsequenzen (American Academy of Pain Medicine et al., 2001; Horowitz & Taylor, 2023; Miller et al., 1987). In der Fachwelt herrscht weitgehend Konsens, dass Antidepressiva nicht süchtig machen, da Konsument*innen sich nicht nach den Substanzen sehnen und diese nicht unkontrolliert konsumieren. Kontinuierliche Antidepressiva-Einnahme führt jedoch nach wenigen Wochen nachweislich zu neurophysiologischen Anpassungen (Horowitz et al., 2023) und folglich zu (körperlicher) Abhängigkeit, welche sich durch Entzugssymptome manifestiert, wenn die biologische Aktivität der Substanz unter einen kritischen Schwellenwert fällt (Chouinard & Chouinard, 2015; Horowitz & Taylor, 2023; Lerner & Klein, 2019; Lugg, 2022). Wie auch verschiedene Fachorganisationen festhalten, können Menschen von einer Substanz abhängig sein, ohne süchtig danach zu sein (American Academy of Pain Medicine et al., 2001v; O’Brien et al., 2006). Antidepressiva werden explizit auch zu diesen Substanzen gezählt (Horowitz & Taylor, 2023; Lerner & Klein, 2019; O’Brien et al., 2006).
Dass die Konzepte Abhängigkeit und Sucht eine distinkte Bedeutung haben und darum gesondert diagnostisch beurteilt werden müssen, wurde leider mit der Einführung des DSM-III-R im Jahr 1987 fundamental untergraben (American Psychiatric Association, 1987). Denn einige Mitglieder der Arbeitsgruppe für Substanzstörungen befanden, dass die Bezeichnung „Sucht“ stigmatisierend und abwertend sei. Die Arbeitsgruppe beschloss deshalb mit knapper Mehrheit, das Verhaltensmuster der Sucht im Konzept der Abhängigkeit zu integrieren und den Begriff der Sucht zu entfernen (O’Brien, 2011; O’Brien et al., 2006). Einige Jahre später wurde diese Änderung auch in der ICD-10 übernommen (World Health Organization, 1992). Der Suchtexperte Charles O’Brien, damaliges Mitglied der DSM-III-R Arbeitsgruppe und dezidierter Gegner dieser Änderung, fasste diese konzeptuelle Konfundierung in einem vielzitierten Fachartikel prägnant zusammen: „[Lehrpersonen, welche verantwortlich sind für das Unterrichten von Sucht für Medizinstudierende und Allgemeinmediziner, müssen erklären, dass es eine normale physiologische Reaktion gibt, die ‘körperliche Abhängigkeit’ genannt wird, und es gibt ‘Sucht’, das Suchtverhalten, welches im DSM ‘Abhängigkeit’ genannt wird]“ (O’Brien, 2011, S. 867).
Sein Appell wurde scheinbar nicht erhört. Denn obschon zahlreiche namhafte Suchtexpert*innen und führende Fachorganisationen wie die American Society of Addiction Medicine und das National Institute on Drug Abuse die Definition der Konzepte Abhängigkeit und Sucht wiederholt richtigstellten (O’Brien et al., 2006) und selbst das im Jahr 2013 erschienene DSM-5 den Fehler korrigierte (American Psychiatric Association, 2013), ist die Konfundierung und Fehlanwendung der Konzepte Abhängigkeit und Sucht immer noch weit verbreitet (Buhler et al., 2024; Szalavitz et al., 2021; Volkow & McLellan, 2016). Das heisst, viele Fachpersonen verwenden die Begriffe fälschlicherweise synonym. Dies wird sich wohl auch nur bedingt ändern, denn in der ICD-11 wird als notwendiges Hauptkriterium der Diagnose Substanzabhängigkeit weiterhin das Verhaltensmuster der Sucht aufgeführt (World Health Organization, 2024). Und weil Antidepressiva bei Konsument*innen kein Suchtverhalten erzeugen, wird wohl auch weiterhin der häufige Fehlschluss gezogen, dass die Medikamente nicht abhängig machen und folglich keine Entzugsreaktionen verursachen können (Horowitz & Taylor, 2023; Lugg, 2022; Medawar, 1997; Nielsen et al., 2013). Entsprechend werden viele Antidepressiva-Entzugssyndrome weiterhin nicht korrekt identifiziert und falsch behandelt (Cosci et al., 2024; Davies et al., 2019; Framer, 2021; Guy et al., 2020; Horowitz & Taylor, 2022a). Im nächsten Kapitel stellen wir deshalb die unterschiedlichen klinischen Manifestationen von Antidepressiva-Entzugsreaktionen vor und zeigen auf, wie diese sich von psychischen Störungen abgrenzen lassen.
Antidepressiva-Entzugssyndrome
Inzwischen hat sich eine systematische Bestimmung und Differenzierung unterschiedlicher Antidepressiva-Entzugsreaktionen in der Fachliteratur weitgehend etabliert (Chouinard & Chouinard, 2015; Cosci & Chouinard, 2020; Fava & Cosci, 2019; Lerner & Klein, 2019; Zwiebel & Viguera, 2022). Dieser zufolge können Entzugsreaktionen in akute und post-akute (persistente) Syndrome unterteilt werden. Akute Entzugssyndrome manifestieren sich typischerweise innerhalb von einem bis vier Tagen nach der letzten Dosisreduktion (je nach Halbwertszeit der Substanz) und dauern nicht länger als einige Wochen (Bschor et al., 2022; Cosci & Chouinard, 2020; Zwiebel & Viguera, 2022). Kennzeichnend für akute Antidepressiva-Entzugssyndrome sind insbesondere neurologische Symptome wie Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Kribbeln, Taubheitsgefühle sowie spezifisch sensorische Symptome wie „Brain Zaps“ (elektrische Missempfindungen im Kopf) und visuelle Veränderungen (Black et al., 2000; Fava et al., 2015; Haddad & Anderson, 2007). Begleitet werden diese Symptome häufig von allgemeinen somatischen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwäche und Übelkeit sowie von psychischen Symptomen wie Reizbarkeit, Agitation, Panik, Schlaflosigkeit und Niedergeschlagenheit (Bschor et al., 2022; Zwiebel & Viguera, 2022). Eine spezifische akute Entzugsreaktion (bzw. ein Subtyp) bilden die sogenannten Rebound-Störungen (Cosci & Chouinard, 2020; Lerner & Klein, 2019). Diese Syndrome manifestieren sich durch ein Wiederauftreten der ursprünglichen psychopathologischen Symptome, jedoch abrupter und intensiver als beim Aufkommen der psychischen Störung, und beinhalten folglich ausgeprägte depressive Symptome und/oder Angstsymptome. Weitere akute Entzugssymptome wie oben aufgelistet können auch auftreten, sind diagnostisch aber nicht notwendig (Bschor et al., 2022; Chouinard & Chouinard, 2015; Zwiebel & Viguera, 2022). Überzeugende wissenschaftliche Evidenz für Rebound-Störungen wurde in Placebo-kontrollierten Behandlungsunterbrechungsstudien gefunden (Michelson et al., 2000; Rosenbaum et al., 1998) und das Syndrom lässt sich auch in klinischen Rückfallpräventionsstudien erschliessen (Greenhouse et al., 1991; Hengartner & Plöderl, 2021).
Die Inzidenz von akuten Entzugssyndromen wird weiterhin kontrovers debattiert (Hengartner et al., 2019; Jauhar et al., 2019; Read & Davies, 2024). Eine exakte, allgemeingültige Inzidenzrate lässt sich auch nicht bestimmen, weil das Risiko für Entzugsreaktionen abhängig ist von verschiedenen Faktoren wie unter anderem der Dauer der Medikamenteneinnahme, dem Wirkstoff und dem Absetzprozedere (Horowitz et al., 2023). Beispielsweise wurde in mehreren Studien ein Zusammenhang zwischen einer längeren Einnahmedauer und sowohl Risiko als auch Schwere der Entzugssymptome beschrieben (Horowitz et al., 2023). In kontrollierten klinischen Studien streut die Inzidenzrate dementsprechend weit und bewegt sich üblicherweise im Bereich von 20–60 % (Baldwin et al., 2007; Fava et al., 2018; Fava et al., 2015), wobei eine gemittelte Rate von rund 40 % am zutreffendsten erscheint (Horowitz et al., 2023; Zhang et al., 2024). Der Schweregrad von akuten Entzugssyndromen wurde in kontrollierten klinischen Studien leider nicht konsistent erfasst. Die spärlichen verfügbaren Daten zeigen jedoch, dass der Schweregrad, gemessen anhand der klinischen Einschätzung der Symptomatik und der selbstberichteten Beeinträchtigung, in den meisten Fällen leicht oder moderat ausfällt (Judge et al., 2002; Michelson et al., 2000; Perahia et al., 2005; Sir et al., 2005). Die Schweregrade sind jedoch sehr variabel. Aufgrund der weiten Streuung umfasst dies, in Übereinstimmung mit diversen Fallstudien, auch schwere Entzugssyndrome mit ernsthafter Agitation, Impulsivität und Suizidalität (Bloch et al., 1995; Kostic et al., 2024; Stone et al., 2007; Tint et al., 2008). Zieht man die Daten von groß angelegten Befragungen von Antidepressiva-Konsument*innen hinzu (Read, 2020; Read et al., 2018), lässt sich grob schlussfolgern, dass in je einem Drittel der Fälle die Entzugssyndrome mild, moderat beziehungsweise schwer sind. Je länger die Medikamente eingenommen wurden, desto häufiger dürften die schweren Syndrome auftreten (Horowitz et al., 2023).
Post-akute (persistente) Entzugssyndrome, auch als protrahierte Entzugssyndrome bezeichnet, treten verzögert auf, meist einige Tage oder Wochen nach dem Absetzen (bzw. der letzten Dosisreduktion), und können über Monate bis Jahre andauern (Chouinard & Chouinard, 2015; Lerner & Klein, 2019; Rennwald & Hengartner, 2025). Post-akute Entzugssyndrome beinhalten, wie die akuten Entzugssyndrome auch, verschiedene neurologisch-sensorische Symptome, allgemeine somatische Symptome sowie psychische Symptome – besonders häufig und auch stark ausgeprägt scheinen insbesondere affektive Symptome wie Niedergeschlagenheit, Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit, Angst und Panik (Fava et al., 2007; Hengartner et al., 2020). Die post-akuten Syndrome ähneln aufgrund ihrer Symptomatik darum depressiven Störungen oder Angststörungen, beinhalten im Gegensatz zu den genuinen psychischen Störungen aber häufig auch neurologisch-sensorische Symptome (Belaise et al., 2012; Cosci et al., 2024; Framer, 2021). Kritisch anzumerken gilt jedoch, dass die Evidenzgrundlage für die post-akuten Entzugssyndrome generell als schwach einzustufen ist. Beruhend auf der wissenschaftlichen Literatur lässt sich mit hoher Gewissheit lediglich schlussfolgern, dass persistente Entzugssyndrome existieren. Darüber hinaus, beispielsweise wie häufig sie auftreten und wie lange sie durchschnittlich anhalten, können aufgrund fehlender Studien mit hoher Aussagekraft keine gesicherten Angaben gemacht werden (Rennwald & Hengartner, 2025).
Ein zentraler Aspekt im Verständnis von Antidepressiva-Entzugsreaktionen ist die Unterscheidung zwischen Entzugssyndromen und depressiven Rezidiven (Rückfällen), da die Symptomatik stark überlappt (Cohen & Recalt, 2020; Hengartner, 2020; Horowitz & Taylor, 2022a). In Anbetracht der systematischen Bagatellisierung und Negierung von Antidepressiva-Entzugsreaktionen ist es naheliegend anzunehmen, dass ganz spezifisch die Entzugssyndrome verkannt oder übersehen werden (Davies et al., 2019; Horowitz & Davies, 2024; Lugg, 2022; Massabki & Abi-Jaoude, 2021). Tatsächlich gibt es zunehmend Evidenz, dass sowohl in der Forschung als auch in der Praxis zahlreiche Entzugssyndrome als depressive Störungen fehldiagnostiziert werden (Cosci et al., 2024; Guy et al., 2020; Hengartner & Plöderl, 2021). Dabei wäre bei adäquater Kenntnis von Antidepressiva-Entzugsreaktionen eine korrekte Unterscheidung in vielen Fällen möglich (Chouinard & Chouinard, 2015; Fava & Cosci, 2019; Horowitz & Taylor, 2022a; Palmer et al., 2023; Zwiebel & Viguera, 2022). Die folgenden drei differentialdiagnostischen Kriterien helfen, Entzugssyndrome sauber von depressiven Störungen (und auch Angststörungen) abzugrenzen.
Erstens: Akute Entzugssymptome treten typischerweise kurz nach der letzten Dosisreduktion auf und entwickeln sich abrupt (d. h. innerhalb weniger Tage). Depressive Störungen hingegen treten selten unmittelbar nach Beendigung der Behandlung auf und entwickeln sich schleichend (d. h. über Wochen und Monate hinweg). Zweitens: Akute Entzugssymptome klingen nach einer Dosiserhöhung beziehungsweise nach Wiedereinstellung der Medikation in den meisten Fällen innerhalb weniger Stunden vollständig ab. Im Gegensatz dazu zeigt sich bei depressiven Störungen keine sofortige Symptomverbesserung nach erneuter Medikation; wenn überhaupt, klingen die Symptome nur langsam über mehrere Wochen hinweg ab. Drittens: Prävalente neurologisch-sensorische Entzugssymptome wie Schwindel, Kribbeln, Taubheitsgefühle, oder „Brain Zaps“ haben eine hohe Spezifität, zumal sie keine Depressionssymptome darstellen (Chouinard & Chouinard, 2015; Horowitz & Taylor, 2022a; Palmer et al., 2023).
In Bezug auf post-akute Entzugssyndrome muss jedoch beachtet werden, dass das erste differentialdiagnostische Kriterium nur bedingt zutrifft und das zweite Kriterium selten gültig ist (Chouinard & Chouinard, 2015; Framer, 2021; Rennwald & Hengartner, 2025). Zum einen entwickeln sich manche post-akuten Entzugssyndrome erst einige Wochen nach der letzten Dosisreduktion, und zum anderen scheint die Wiedereinstellung der Medikation in den meisten Fällen keine Wirkung zu zeigen (Framer, 2021; Hengartner et al., 2020). Deshalb gilt es bei post-akuten Entzugssyndromen, das dritte differentialdiagnostische Kriterium der spezifischen neuro-sensorischen Symptome ganz besonders zu beachten.
Prävention und Intervention
Zum sicheren und schonenden Absetzen von Antidepressiva gibt es leider kaum verlässliche wissenschaftliche Evidenz (Boland et al., 2024; Vinkers et al., 2021; Wilson & Lader, 2015). Der aktuelle Erkenntnisstand lässt somit nur wenige Aussagen zu Prävention und Intervention zu, und selbst diese gelten zumeist als wissenschaftlich nicht ausreichend gesichert (Rennwald & Hengartner, 2025; Van Leeuwen et al., 2021; Wilson & Lader, 2015). Folglich sind auch die in klinischen Behandlungsleitlinien gemachten Handlungsempfehlungen vage und wenig hilfreich (Sorensen et al., 2022a). Die Leidtragenden sind letztlich die Antidepressiva-Konsument*innen mit schweren Entzugssyndromen, die keine adäquate medizinische Unterstützung erhalten und mit ihren Absetzversuchen (wiederholt) scheitern (Groot & van Os, 2020; Guy et al., 2020; Read et al., 2023). Deshalb fordern sowohl Konsument*innen als auch Behandelnde und Forscher*innen dringliche wissenschaftliche Anstrengungen, damit in naher Zukunft stringente evidenzbasierte Handlungsempfehlungen und klinische Interventionen angeboten werden können (Boland et al., 2024; Read et al., 2023; Rennwald & Hengartner, 2025; Van Leeuwen et al., 2021; Vinkers et al., 2021).
Eine hohe wissenschaftliche Gewissheit hat im Grunde lediglich der Befund, dass das Absetzen von Antidepressiva zu Entzugsreaktionen führen kann (Fava & Cosci, 2019; Hengartner et al., 2019; Palmer et al., 2023). Dies trifft nicht nur auf das abrupte Absetzen zu, sondern auch, wenn die Medikamente graduell innerhalb von zwei bis acht Wochen ausgeschlichen werden (Baldwin et al., 2007; Lewis et al., 2021; Tint et al., 2008). Der namhafte Experte Giovanni Fava ist darum dezidiert der Meinung, dass ein Ausschleichen der Medikation das Auftreten von Entzugssymptomen nicht verhindern könne (Fava & Belaise, 2018; Fava & Cosci, 2019). Die Mehrheit der Expert*innen in diesem Feld vertritt jedoch die Ansicht, dass ein langsames Ausschleichen nicht nur das Risiko für Entzugsreaktionen vermindert, sondern auch die Schwere der Entzugssymptome, sollte es dennoch zu einer Entzugsreaktion kommen (Horowitz et al., 2023; Palmer et al., 2023; Wilson & Lader, 2015; Zwiebel & Viguera, 2022). Oftmals wird hierfür aber ein sehr langsames, schrittweises Ausschleichen notwendig sein.
Lange Zeit wurde vielen absetzwilligen Konsument*innen geraten, sie sollen für zwei Wochen auf die nächst tiefere Dosis reduzieren und dann nochmals für zwei Wochen auf die kleinste verfügbare Dosis, bevor sie das Medikament ganz absetzen. Auch das graduelle Ausschleichen über vier bis acht Wochen war (und ist weiterhin) eine geläufige ärztliche Empfehlung (Wilson & Lader, 2015). Für viele Konsument*innen stellten sich die Reduktionen im Niedrigdosisbereich, oftmals weit unterhalb der therapeutischen Mindestdosis, aufgrund schwerer Entzugssymptome jedoch als unerträglich heraus (Framer, 2021; Read et al., 2023; Stockmann, 2019). In medizinischen Fachkreisen wurden ihre Symptome häufig nicht ernst genommen, da Dosen unterhalb der therapeutischen Mindestdosis für wirkungslos erachtet wurden. Deshalb sahen sich viele Konsument*innen gezwungen, im Internet nach Rat zu suchen und eigene Ausschleichstrategien zu entwickeln (Groot & van Os, 2020; Horowitz, 2019; White et al., 2021). In elaborierten Empfehlungen, wie sie beispielsweise auf SurvivingAntidepressants.org zu finden sind, betonen zahlreiche Konsument*innen, dass im Niedrigdosisbereich die Dosisreduktionen immer kleiner werden sollten, um das Risiko und die Schwere von Entzugssymptomen zu mindern. Von einem graduellen Ausschleichen mit gleichmässigen Dosisreduktionen über vier bis acht Wochen, wie es in der medizinischen Praxis gängig ist, wird in vielen Erfahrungsberichten explizit abgeraten (Framer, 2021).
Die Ratschläge der Konsument*innen stellten sich schliesslich aus einer neuropharmakologischen Perspektive als sinnvoll heraus, die gängigen ärztlichen Empfehlungen entsprechend als problematisch (Groot & van Os, 2020; Horowitz, 2019). Denn im Jahr 2019 publizierten Horowitz und Taylor eine bahnbrechende Arbeit, worin sie aufzeigten, dass die pharmakologische Wirkung von Citalopram erst unterhalb der therapeutischen Mindestdosis substanziell abnimmt (Horowitz & Taylor, 2019). So werden bei der therapeutischen Mindestdosis von 20 mg weiterhin rund 81 % der Serotonintransporter-Rezeptoren im Striatum belegt. Während selbst eine massive Dosissteigerung von 20 mg auf 60 mg (d. h. plus 40 mg) die Rezeptoren-Belegung nicht einmal um 10 % erhöhen kann (88 % Belegung bei einer Dosis von 60 mg), führt eine Reduktion von 20 mg auf 9.1 mg (d. h. minus 10.9 mg) bereits zu einer Abnahme in der Rezeptoren-Belegung auf 70 %. Nachfolgend werden die Dosisreduktionen für jeweils 10 % weniger Rezeptoren-Belegung zunehmend kleiner: Für eine Abnahme der Rezeptoren-Belegung von 70 % auf 60 % muss die Dosis von 9.1 mg auf 5.4 mg reduziert werden (minus 3.7 mg), für eine Abnahme der Belegung von 60 % auf 50 % muss die Dosis lediglich von 5.4 mg auf 3.4 mg reduziert werden (minus 2.0 mg). Und selbst bei einer kleinsten Dosis von 1.5 mg ist die pharmakologische Wirkung mit einer Rezeptoren-Belegung von 30 % immer noch beachtlich.
Somit wurde aufgezeigt, dass die Beziehung zwischen der pharmakologischen Wirkung und der Dosis nicht linear, sondern hyperbolisch ist, und dass selbst kleinste Dosen weit unterhalb der therapeutischen Mindestdosis immer noch eine substanzielle pharmakologische Wirkung erzeugen (Horowitz & Taylor, 2019). Diese wichtigen Befunde wurden kurz darauf auch für andere serotonerg wirksame Antidepressiva sowohl im Striatum als auch in anderen Hirnregionen konsistent repliziert (Sorensen et al., 2022b). Die praktische Implikation dieser hyperbolischen Beziehung ist, dass erst weit unterhalb der therapeutischen Mindestdosis die pharmakologische Wirkung von Antidepressiva deutlich abnimmt, und dass für eine gleichmässige Abnahme der pharmakologischen Wirkung die Dosis in immer kleineren Schritten reduziert werden muss (Horowitz & Taylor, 2019; Sorensen et al., 2022b). Es wird zudem empfohlen, zwischen den Reduktionen zwei bis vier Wochen abzuwarten, damit der Körper Zeit hat, die neurophysiologischen Anpassungen entsprechend neu auszugleichen. Wie klein die Dosisreduktionen sein müssen, damit sie erträglich sind, und wie lange zugewartet werden muss, bis eine weitere Dosisreduktion vorgenommen werden kann, ist interindividuell jedoch sehr unterschiedlich – wenn schwere Entzugssymptome auftreten, ist dies jedenfalls ein Zeichen, dass die Dosisreduktion kleiner erfolgen muss und dass womöglich länger zugewartet werden sollte, bis die nächste Reduktion vorgenommen werden kann (Horowitz & Taylor, 2022b; Horowitz & Taylor, 2024). Zahlreiche Konsument*innen befinden in Selbsthilfegruppen im Internet diese hyperbolische Ausschleichstrategie für eine wirksame Methode zur Verminderung von Antidepressiva-Entzugsreaktionen (Framer, 2021). Auch wissenschaftliche Befunde aus unkontrollierten Beobachtungsstudien deuten an, dass diese Methode das Absetzen von Antidepressiva erträglicher macht beziehungsweise ein erfolgreiches Absetzen erst ermöglicht (Groot & van Os, 2020, 2021; van Os & Groot, 2023). Nichtsdestotrotz muss angemerkt werden, dass die Wirksamkeit des hyperbolischen Ausschleichens noch nie in einer kontrollierten klinischen Studie überprüft wurde.
Allgemein akzeptiert aufgrund überzeugender wissenschaftlicher Evidenz, ist hingegen die Empfehlung, dass bei Auftreten akuter Entzugssymptome während einer Dosisreduktion das Wiedereinstellen der ursprünglichen Dosis die Entzugssymptome in den allermeisten Fällen innerhalb von ein bis zwei Tagen abklingen lässt (Haddad & Anderson, 2007; Horowitz & Taylor, 2024; Palmer et al., 2023; Wilson & Lader, 2015). Konsens herrscht auch bezüglich des Befundes, dass Medikamente mit einer sehr kurzen Halbwertszeit (insbesondere Paroxetin und Venlafaxin) das höchste Risiko für schwerwiegende akute Entzugssymptome tragen und entsprechend schwierig abzusetzen sind (Fava & Cosci, 2019; Horowitz et al., 2023; Zwiebel & Viguera, 2022). Medikamente mit einem hohen Entzugsrisiko sollten darum sehr zurückhaltend verschrieben werden.
Einige wissenschaftliche Befunde stützen ausserdem die Annahme, dass erst ab einer Einnahmedauer von einigen Monaten das Risiko für Entzugsreaktionen zunimmt und dass bei einer mehrjährigen hochdosierten Einnahme das Risiko am höchsten ist (Horowitz et al., 2023; Zwiebel & Viguera, 2022). Wenn Antidepressiva nicht hoch dosiert werden und nach dem Erzielen einer Remission zeitnah abgesetzt werden, sollte dies folglich zu weniger neurophysiologischen Anpassungen führen und somit das Risiko für schwere und langwierige Entzugsreaktionen ebenfalls reduzieren (Fava, 2014, 2020; Horowitz et al., 2023). Ein beweiskräftiger wissenschaftlicher Nachweis steht hierfür jedoch noch aus. Wissenschaftliche Evidenz aus kontrollierten klinischen Studien zeigt hingegen, dass eine Psychotherapie begleitend zum Ausschleichen der Medikamente die Chancen für ein erfolgreiches Absetzen erhöht und das Risiko eines depressiven Rezidivs längerfristig gleichermassen reduziert wie die medikamentöse Erhaltungstherapie (Breedvelt et al., 2021; Maund et al., 2019b). Zur klinischen Intervention bei post-akuten Entzugssyndromen können wir hingegen keine Angaben machen, da es keine überzeugende wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit jeglicher Behandlungsmassnahmen gibt (Rennwald & Hengartner, 2025).
Implikationen für Psychotherapeut*innen
Psychotherapeut*innen spielen eine zentrale Rolle in der Behandlung von Patient*innen mit depressiven Störungen und Angststörungen. Somit sehen sie auch viele Patient*innen, die Antidepressiva einnehmen und im Therapieverlauf womöglich absetzen wollen. Durch ihre kontinuierliche Arbeit mit diesen Patient*innen sind Psychotherapeut*innen prädestiniert, eine fundierte Aufklärung zu leisten, gezielte psychotherapeutische Unterstützung anzubieten und den Absetzprozess professionell zu begleiten (Fava & Belaise, 2018; Maund et al., 2019a). Metaanalysen kontrollierter klinischer Studien zeigen auf, dass eine Psychotherapie begleitend zum Ausschleichen von Antidepressiva deutlich höhere Chancen für ein erfolgreiches Absetzen der Medikamente verspricht (Maund et al., 2019b) und dass nach dem psychotherapeutisch unterstützten Absetzen der Medikamente das Risiko für neue depressive Episoden langfristig gleich wirksam reduziert wird wie bei einer Fortführung der medikamentösen Behandlung (Breedvelt et al., 2021; Maund et al., 2019b).
Hierfür ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeut*innen und ärztlichen Behandelnden unerlässlich. Dies dürfte in verschiedenen Fällen jedoch erst auf Initiative der Psychotherapeut*innen erfolgen, zumal in der allgemeinmedizinischen und psychiatrischen Praxis weiterhin ein mangelndes Bewusstsein für die Komplexität von Antidepressiva-Entzugsreaktionen und schonendes Ausschleichen besteht (Framer, 2021; Groot & van Os, 2020; Lugg, 2022). Da Allgemeinmediziner*innen und Psychiater*innen die Patient*innen in der Regel nur sporadisch und in längeren Zeitabständen sehen, können Psychotherapeut*innen zudem eine Brückenfunktion einnehmen. Dies ist wichtig, um sicherzustellen, dass Patient*innen eine auf ihre individuellen Bedürfnisse abgestimmte Unterstützung beim Absetzen erhalten (Fava et al., 2018; Maund et al., 2019a).
Ein wesentlicher Bestandteil dieser Begleitung durch Psychotherapeut*innen ist die Psychoedukation. Dies umfasst die Sensibilisierung für potenzielle Entzugssymptome und zugrundeliegende neurophysiologische Mechanismen, die Risiken eines abrupten Absetzens sowie Ausschleichstrategien zur schrittweisen, hyperbolischen Dosisreduktion, um das Absetzen möglichst schonend und erfolgreich zu gestalten (Horowitz & Taylor, 2024; Palmer et al., 2023; Zwiebel & Viguera, 2022). Besonders nach einer langjährigen hochdosierten Antidepressiva-Einnahme wird ein individuell angepasstes Ausschleichen oftmals für notwendig erachtet, um das Risiko schwerer Entzugssyndrome und scheiternder Absetzversuche zu reduzieren (Groot & van Os, 2021; Horowitz et al., 2023). Eine Psychotherapie kann Entzugsreaktionen nicht verhindern, da diese ein neurophysiologischer Prozess sind. Psychotherapeut*innen können aber wesentlich dazu beitragen, die psychische Belastung während des Absetzens zu mindern (Fava & Belaise, 2018). Von Bedeutung ist neben der Vermittlung effektiver Bewältigungsstrategien auch die therapeutische Unterstützung bei emotionalen Reaktionen wie der Angst vor einem Rückfall oder der Unsicherheit bezüglich der Lebensbewältigung ohne Medikation. Eine empathische Begleitung stärkt die Motivation zum Absetzen und vermittelt den Betroffenen Sicherheit in diesem mitunter anspruchsvollen und langwierigen Prozess. Ein weiterer essenzieller Aufgabenbereich ist die Differenzialdiagnostik. Da Entzugssymptome häufig mit einem Rückfall in die ursprüngliche Erkrankung verwechselt werden, ist eine präzise diagnostische Abklärung erforderlich. Die genaue Erfassung des zeitlichen Auftretens der Symptome und ihrer spezifischen Charakteristika ist entscheidend, um einen Rückfall ausschliessen und eine unnötige Wiederaufnahme der Medikation vermeiden zu können (Horowitz & Taylor, 2022a; Palmer et al., 2023).
Schlussfolgernd wollen wir festhalten, dass die Fachliteratur klar aufzeigt, dass beim Absetzen von Antidepressiva Entzugssyndrome auftreten können, die mitunter schwerwiegend und langwierig sind (Davies & Read, 2019; Fava et al., 2018; Fava et al., 2015). Diese Entzugssyndrome entstehen, weil die kontinuierliche Einnahme von Antidepressiva, wie andere psychotrope Substanzen auch, zu gegenregulativen neurophysiologischen Anpassungen führt (Horowitz et al., 2023). Dies ist eine normale körperliche Reaktion, die in der Pharmakologie und Suchtmedizin als (körperliche) Abhängigkeit bezeichnet wird und abzugrenzen ist von den unkontrollierten, konsumzentrierten Verhaltensweisen, die als Sucht konzipiert werden (Lerner & Klein, 2019; O’Brien et al., 2006). Ein langsames, hyperbolisches Ausschleichen, insbesondere im Dosisbereich weit unterhalb der therapeutischen Mindestdosis, mag helfen, Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden (Horowitz & Taylor, 2019) und dadurch ein erfolgreiches Absetzen manchmal erst ermöglichen (Groot & van Os, 2021; Horowitz & Taylor, 2024; Palmer et al., 2023). Psychotherapeut*innen können absetzwillige Patient*innen durch Aufklärungsarbeit, Psychoedukation und psychotherapeutische Unterstützung wirksam durch den stellenweise beschwerlichen Absetzprozess begleiten und damit ebenfalls zu einem erfolgreichen Absetzen von Antidepressiva beitragen (Fava & Belaise, 2018; Maund et al., 2019b). Es ist bedenklich, dass es zu Entzugsreaktionen und dem sicheren Absetzen von Antidepressiva weiterhin nur wenige gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse gibt (Horowitz et al., 2023; Rennwald & Hengartner, 2025; Van Leeuwen et al., 2021) und die Problematik auch in der Gesundheitsversorgung unzureichend Beachtung findet (Cosci et al., 2023; Read et al., 2023; Sorensen et al., 2022). In Forschung und Praxis besteht deshalb ein dringlicher Nachholbedarf (Boland et al., 2024; Davies et al., 2023; Vinkers et al., 2021).