Originalia

Angst und Solidarität

Psychologische und gesellschaftliche Aspekte

Anxiety and solidarity

Psychological and social aspects

verfasst von: Hans-Jürgen Wirth

Veröffentlicht / published 17.09.2025

Abstract

Zusammenfassung: Der Beitrag widmet sich der komplexen psychosozialen Dynamik zwischen Angst und Solidarität. Im ersten Teil wird Angst als eine ubiquitäre Emotion behandelt, die auf innerpsychische Vorgänge sowie auf äußere Gefahren reagiert. Angst kann sich mit anderen Gefühlen vermischen und als Angst vor der Angst in eine Steigerungsdynamik geraten. Als Warnsignal ist Angst unverzichtbar. In übersteigerter Form kann sie jedoch zu phobischen oder auch zu paranoiden Einstellungen führen und die Kommunikation in Familien und Gruppen prägen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Solidarität als Reaktion auf Angst und als Mittel zur Angstbewältigung. Solidarisches Verhalten und soziale Unterstützung können Ängste abbauen, indem sie ein Gefühl von Sicherheit und Zusammenhalt schaffen. Solidarität mit der eigenen Gruppe führt aber auch zu Aggressionen gegenüber der Fremdgruppe und kann zudem politisch instrumentalisiert werden.[1]

Summary: This article is dedicated to the complex psychosocial dynamics between anxiety and solidarity. In the first part, anxiety is treated as a ubiquitous emotion that reacts to internal psychological processes as well as to external dangers. Anxiety can mix with other emotions and, as an anxiety of anxiety, can enter into a dynamic of escalation. As a warning signal, fear is indispensable. In its exaggerated form, however, it can lead to phobic or even paranoid attitudes and shape communication in families and groups. The second part deals with solidarity as a reaction to anxiety and as a means of overcoming it. Solidarity and social support can reduce anxiety by creating a sense of security and cohesion. However, solidarity with one's own group also leads to aggression towards the foreign group and can also be exploited politically.


Was ist Angst? Wie fühlt sie sich an?

Angst und Furcht gehören zu den Emotionen, die bei allen Menschen und „in allen Kulturen auftreten und zu allen Zeiten bekannt waren“ (Demmerling & Landweer, 2007, S. 63). Auch höher entwickelte Tiere verfügen über dieses Reaktionsmuster. Es dient der Warnung vor Gefahren und hat insofern eine unmittelbare Überlebensfunktion. Sigmund Freud (1926) betont den „Signalcharakter der Angst“.

Oft wird zwischen Furcht und Angst unterschieden. Furcht richtet sich auf konkrete Gefahren, auf die mit Vermeidung, Flucht oder Angriff reagiert werden kann. Angst hat dagegen einen eher diffusen Charakter und richtet sich auf innere psychische Zustände, denen man nicht so leicht entkommen kann. Oft vermischen sich die Angst vor inneren psychischen Prozessen und die Beunruhigung durch äußere Gefahren, sodass eine differenzierte Wahrnehmung und Einordnung der primären Gefahr kaum noch möglich ist. Die Ängste richten sich dann nicht mehr auf eine konkrete Bedrohung, sondern heften sich an ein diffuses Gefühl einer lauernden Gefahr (Bude, 2014).

Angst ist ein elementarer Bestandteil des menschlichen Lebens. Sie tritt in den verschiedensten Schattierungen und Intensitätsgraden auf und mischt sich mit anderen Gefühlszuständen (Koch, 2013). So wird beispielsweise das Gefühl der Scham durch die Angst vor der Scham verstärkt. Menschen sind unterschiedlich anfällig für Ängste bzw. haben unterschiedliche Reaktions- und Bewältigungsmuster im Umgang mit Ängsten. Bei leichteren Formen der Angst werden wir vielleicht neugierig, unruhig oder besorgt. Bei starken Ängsten entwickeln wir böse Vorahnungen. Schreckensbilder steigen in uns auf. Beziehen sich die Ängste auf das eigene Ich, fühlen wir uns schüchtern, verzagt, beklemmt, fassungslos, mutlos, sprachlos, starr vor Schrecken, wie versteinert, wie vom Donner gerührt. Unser Körper reagiert mit Gänsehaut, Unruhe erfasst uns, wir erstarren zur Salzsäule und werden aschfahl im Gesicht. Die Haare stehen uns zu Berge, das Herz beginnt zu rasen, der Angstschweiß tritt uns auf die Stirn, das Blut erstarrt in den Adern.

Diese Aufzählung von Ausdrucksformen der Angst soll deutlich machen, wie breit die Klaviatur ist, auf der Angstgefühle gespielt werden. Die dramatischen Töne gehören ebenso dazu wie die leisen. Die dramatischen Angstgefühle begegnen uns oft bei unseren Patient*innen, wir kennen sie aber auch aus eigenem Erleben. Die leisen Angstgefühle begleiten uns oft, manchmal ohne dass wir sie bemerken oder so benennen könnten. Manchmal löst schon der Gedanke an eine herausfordernde Situation, z. B. eine bevorstehende Prüfung, ein diffuses Angstgefühl aus. Das kann entweder Lähmung bewirken, die zu Prokrastination führt, oder aber zu einer Aktivierung, die schließlich dazu motiviert, die Vorbereitung nicht weiter aufzuschieben, sondern zu beginnen. Also: Auch prospektive Ängste haben eine wichtige Funktion in unserem Seelenleben.

Angst spielt eine zentrale Rolle in unserem Gefühlshaushalt. Wie Scham und Schuldgefühl hat auch Angst eine bemerkenswerte Eigenschaft: Angst ist ein selbstreflexives Gefühl. Angst richtet sich nicht nur auf äußere Gefahren, sondern auch auf innere Zustände. Sie erlaubt und zwingt uns, über uns selbst nachzudenken, Distanz zu uns selbst zu gewinnen. Man bekommt Angst, zum Beispiel vor der eigenen Unsicherheit oder Angst vor einer aufsteigenden depressiven Stimmung. Ein Mensch, der zu Wutanfällen neigt, kann auch Angst vor seinen eigenen aggressiven Wutausbrüchen haben. Er spürt förmlich, wie der Hass in ihm aufsteigt, dass er gleich ausflippen wird, und er kann dann Maßnahmen ergreifen, um dem entgegenzuwirken, indem er z. B. aus dem Felde geht oder beruhigende Selbstgespräche führt oder sich ablenkt etc. Zur Selbstreflexivität der Angst gehört auch die Angst vor der Angst. Mit dem Gefühl der Angst kann man eine Metaposition zu anderen Gefühlen und zu sich selbst als ganzer Person einnehmen.

Die Tatsache, dass wir Angst vor der Angst haben können, d. h., dass wir das Gefühl der Angst nutzen können, um über uns selbst nachzudenken, ist einerseits ein Vorteil, weil dadurch das psychische Innenleben eine enorme Komplexität erreicht und die Ausprägung, Differenzierung und Mentalisierung komplexer psychischer und auch kommunikativer Prozesse ermöglicht wird. Auf der anderen Seite ist dieser Umstand aber auch dafür verantwortlich, dass der Mensch in besonderer Weise verletzlich ist, insofern ihm so vieles bewusst werden kann und damit in Frage gestellt wird (Maio, 2024). Besonders deutlich wird dies im Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens, d. h. der Tatsache, dass wir alle sterben müssen. Dieses Todesbewusstsein kann existenzielle Ängste auslösen und ist Ausdruck existenzieller Verletzlichkeit. Die Chance besteht darin, dass wir unser Leben nicht einfach leben, sondern dass wir unser Leben führen können, d. h., dass wir unser Leben planvoll gestalten können (Fuchs, 2020, S. 101). Wir wissen, dass es endlich ist, und dieses Bewusstsein beinhaltet sowohl die Möglichkeit, Angst und Verzweiflung zu empfinden, als auch eine Vorstellung davon zu entwickeln, was wir mit unserem Leben anfangen wollen.

Auch bei der Wahrnehmung äußerer kollektiver Gefahren spielt das Gefühl der Angst eine zentrale Rolle. Inflation und drohende Arbeitslosigkeit können ebenso Ängste auslösen wie die Stationierung von Atomwaffen, ein Reaktorunfall, die Klimakrise, das Artensterben, der Ausbruch einer Pandemie oder der Einmarsch Russlands in die Ukraine. Sollten Ängste auch bei diesen kollektiven Gefahren ernst genommen werden?

Hier scheiden sich die Geister – auch unter Psychotherapeut*innen: Die einen meinen, Angst sei generell ein schlechter Ratgeber und führe eher zu irrationalem Verhalten. Dies gelte insbesondere für Panik und neurotische Ängste, auch für sehr starke Ängste, die zu einer Erstarrung, dem sogenannten „Freezing“, führen. Auch die Angst vor der Angst führt häufig (aber nicht notwendigerweise) zu einer weiteren Steigerung der Angst.

Die anderen verweisen auf den Signalcharakter der Angst, der uns auf eine Gefahr aufmerksam macht und es uns ermöglicht, diese überhaupt als solche zu empfinden und zu erkennen.

Ein Problem bei der Wahrnehmung abstrakter Gefahren besteht darin, dass das menschliche Emotionssystem evolutionsbiologisch primär auf den sozialen Nahbereich und auf sinnlich wahrnehmbare Gefahren ausgelegt ist, also auf Gefahren, die wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten können. Abstrakte Gefahren wie das Virus, die atomare Strahlung oder das Abschmelzen der Polkappen sind emotional viel schwerer fassbar.

Der Philosoph Günter Anders, der sich mit dem Holocaust, den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und einem drohenden Atomkrieg auseinandergesetzt hat, diagnostiziert deshalb eine „Apokalypse-Blindheit“ (Anders, 1956), eine Verleugnung der existenziellen Gefahren, denen die Menschheit insgesamt ausgesetzt ist. Er bezieht sich dabei auf die Gefahr eines Atomkrieges, seine Überlegungen lassen sich aber unschwer auch auf die Klimakatastrophe und das Artensterben übertragen.

Anders (1956) spricht von der „Antiquiertheit des Menschen“, die im Missverhältnis besteht zwischen den menschlichen Möglichkeiten, Produkte herzustellen, die gigantische Destruktionen bewirken können, und der begrenzten Kapazität, sie gefühlsmäßig zu erfassen. Er empfiehlt, dass wir uns als Kollektiv regelrechten systematischen Übungen unterziehen – er spricht von „Exerzitien“ (ebd., S. 274) –, die dazu dienen sollen, „das Volumen unserer Vorstellung und unseres Fühlens willentlich zu erweitern“ (ebd., S. 273). Da „wir unseren eigenen Produkten und deren Folgen phantasie- und gefühlsmäßig nicht gewachsen sind“ (ebd.), sollten wir „die unwillige Phantasie und das faule Gefühl herauslocken“ (ebd., S. 275), um so „unseren Gegenwarts-Horizont willentlich zu erweitern“ (ebd., S. 282).

Wir sollten also, so seine Idee, unseren Fantasie- und Gefühlsraum so erweitern, dass wir die Folgen, beispielsweise der Klimaerwärmung, wirklich – also auch emotional – an uns heranlassen (Chmielewski, 2019). Nur so kann die ernsthafte Bereitschaft entstehen, wirklich handeln zu wollen. Greta Thunberg hat das bei ihrer Rede vor der UNO so formuliert: „I want you to panic. I want you to feel the fear I feel every day. I want you to act as if the house is on fire, because it is.”

Angst und Furcht spielen in allen Bereichen des individuellen, des sozialen und auch des politischen Lebens eine zentrale Rolle. Angstgefühle werden von anderen Menschen wahrgenommen und können ansteckend wirken. Sie breiten sich in sozialen Gruppen aus und unterfüttern auch politische Diskurse (Wirth, 2022). Ängste können auch manipulativ geschürt werden, um Meinungsbildung, Gruppenprozesse und politische Entscheidungen zu beeinflussen.


Familiäre Formen der Angstbewältigung

Der Psychoanalytiker und Familientherapeut Horst-Eberhard Richter (1970) hat in seinem Buch Patient Familie drei homogen strukturierte Familientypen beschrieben, bei denen die Bewältigung oder – genauer gesagt – die Abwehr von Ängsten im Mittelpunkt steht: die angstneurotische, die paranoide und die hysterische Familie. Er hat damit eine sozialpsychologische Theorie entwickelt, die eine Analyse der Verformungen psychosozialer Beziehungen in Folge starker Ängste ermöglicht. Das entwickelte theoretische Modell hat das Potenzial, nicht nur Familien, sondern auch Gruppen und gesellschaftliche Systeme zu analysieren.

Bei der „angstneurotischen Sanatoriums-Familie“ (Richter, 1970, S. 73 ff.) steht meist ein Familienmitglied im Zentrum, das von Vereinsamungsängsten, Vernichtungsängsten, vegetativen Beschwerden und Hypochondrie bestimmt ist. Diese angstneurotische Zentralfigur setzt alle anderen Familienmitglieder unter Druck, sich ihrem risikoarmen, hygienischen und harmoniesüchtigen Lebensstil anzupassen, und verwandelt die Familie in eine Art von „selbstgeschaffenem Sanatorium“ (Richter, 1976, S. 15). Sie nutzt beispielsweise die Ausnahmesituation der Pandemie und der staatlich verordneten Kontaktsperre, um die anderen Familienmitglieder überängstlich an sich zu binden und auf das familiäre Schonklima zu verpflichten. Die ganze Familie entwickelt eine Gruppenphobie, die zwar auf die kranke Hauptperson beruhigend wirkt, insgesamt jedoch zu einer „Einschränkung des familiären Gruppen-Ichs“ (ebd.) führt. Bei Kindern kann dies zu erhöhter Ängstlichkeit und einem sozialen Rückzug von Gleichaltrigen führen und stellt damit ein hohes Risiko für ihre psychosoziale Entwicklung dar. Solche Kinder können eine „unbewusste Lebensangst“ (Fuchs, 2002, S. 105) entwickeln, indem sie sich auf „die Zeit der Kindheit fixieren und sich weigern, erwachsen und autonom zu werden“ (ebd.).

In der „paranoiden Festungsfamilie“ (Richter, 1970, S. 90 ff.) herrscht eine hohe aggressive Spannung, die durch Übersolidarisierung der Mitglieder und Projektion der Aggression auf gemeinsame äußere Feinde in Schach gehalten werden soll. Das paranoide Weltbild hält die Familie wie eine Festungsmauer zusammen. Das Freund-Feind-Denken durchdringt alle Lebensbereiche. In radikalen religiösen Sekten und anderen von Fanatismus geprägten Gruppen sind solche paranoiden Strukturen sowohl in der Gruppe als auch in den dazugehörigen Familien weit verbreitet. Da paranoides Denken und Verschwörungstheorien eine starke suggestive Wirkung haben, werden solche paranoiden Strukturen häufig von einer Generation auf die nächste oder auch auf andere Gruppen übertragen. Solidarität dient in diesem Modell der Stabilisierung einer paranoiden Gruppenstruktur.

Wenn sich gesellschaftliche Krisen und Spannungen zuspitzen, wie z. B. während der Pandemie oder in der kontroversen Diskussion um die Migrationspolitik, wird die latent vorhandene Bereitschaft zu Ängsten, aber auch zu paranoiden Einstellungen bei sehr vielen Menschen gleichzeitig getriggert. Gegenwärtig ist die Migrationskrise und die Frage nach angemessenen Lösungen das beherrschende Thema. Die Sorgen und Ängste der vielen anderen wirken ebenso ansteckend wie Verfolgungsängste und Verschwörungserzählungen. So kann in einzelnen Familien, aber auch in sozialen Gruppen eine paranoide Atmosphäre entstehen, die sich massenpsychologisch ausbreitet. Schert in einer Familie ein Mitglied aus der wahnhaften Realitätswahrnehmung aus, droht die Spaltung der Familie. Abweichende Mitglieder werden von der Kommunikation ausgeschlossen oder es wird vereinbart, das brisante Streitthema zu tabuisieren. Auch Freundschaften werden durch paranoide Überzeugungen auf eine harte Probe gestellt, wie man während der Corona-Pandemie oft beobachten konnte oder selbst schmerzlich erfahren musste.

Misstrauische oder gar paranoide Vorstellungen können nicht nur Familien, sondern auch kleinere und größere soziale Gruppen erfassen. So kann sich ein gesellschaftliches Klima des Misstrauens, der projektiven Feindbilder und der Polarisierung über emotional aufgeladene Streitfragen ausbreiten. Die Verarbeitung von Ängsten nach dem Muster der paranoiden Familie findet ihre Ausdrucksformen sowohl im Rechts- als auch im Linkspopulismus.

In der „hysterischen Theaterfamilie“ (Richter, 1970, S. 107 ff.) gibt es in der Regel ein Mitglied mit einer histrionischen Störung. Diese zentrale Figur organisiert die restliche Familie nach ihren Bedürfnissen und bezieht sie als Mitspieler*innen oder Zuschauer*innen in ihr Theaterspiel mit ein. Der theatralische Charakter des Familienlebens ist das hervorstechende Merkmal der hysterischen Familie. Es wird ein grandioses Wechselspiel zwischen Exhibitionismus und Voyeurismus inszeniert, in dem es ständig und ausschließlich um Darstellung und Effekthascherei geht. Nachdenklichere und sachlichere Familienmitglieder werden als „Spielverderber*innen“ geächtet und so lange unter Druck gesetzt, bis sie sich wenigstens als applaudierende Zuschauer*innen in das hysterische Familienensemble einfügen: The show must go on. Glanz und Elend des Familienensembles zeigen sich dann, wenn anlässlich einer äußeren Krise verdrängte Ängste und Depressionen zum Vorschein kommen und die ganze hysterische Dauerinszenierung jäh in sich zusammenbricht. Solidarität wird hier als überdrehte Dauerparty inszeniert.

Neben den von Richter exemplarisch beschriebenen Formen des Umgangs mit Angst existieren weitere individuelle und soziale Praktiken der Bearbeitung von Angst. Die Bandbreite der Reaktionen auf angstauslösende Situationen ist vielfältig und reicht vom bewusst herbeigeführten Aufsuchen dieser Situationen („sensation seeking“) über Verleugnung bis hin zur Verwandlung von Angst in projektiven Hass und zu pathologischen Reaktionen im Sinne von Angststörungen.

Eine weitere Technik besteht in der Angstverachtung, das heißt in dem Versuch, sich über das Gefühl der Angst zu erheben und es in heroischer Weise zu überwinden. Das Motto könnte lauten: „Angst ist etwas für Schwächlinge. Ich hingegen kann alle Gefahren meistern und selbst der Tod kann mich nicht ängstigen.“ In heroischen Männlichkeitskulten manifestiert sich die Demonstration von Angstlosigkeit und Todesverachtung.

Gemeinsam ist diesen Formen des Umgangs mit Angst, dass sie mit unerwünschten Nebenfolgen einhergehen und deshalb als defizitär, mindestens als suboptimal oder gar als pathologisch zu betrachten sind. Das hilfreiche Potenzial, das der Angstemotion innewohnt, bleibt ungenutzt. Wie die psychologische Forschung zeigt, stellt Angst nicht nur ein Warnsystem bei Bedrohungen dar, sondern kann bei erfolgreicher Bewältigung angstauslösender Situationen zu neuen Lösungen und Sichtweisen führen. Dies fördert die Bewältigungskompetenzen des Individuums und stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit (vgl. Isermann & Diegelmann, 2022, S. 16 ff.). Aus neuropsychologischer Perspektive werden dadurch adaptive Reorganisationsprozesse im Gehirn induziert (vgl. Hüther, 2009). Die mentalisierende Verarbeitung von Angstgefühlen stellt eine produktive Form des Umgangs mit Angst dar, die eine realitätsgerechte Antwort auf die Angst selbst und die sie auslösende Ursache ermöglicht.

Die psychologische Forschung zeigt signifikante Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Bereitschaft, Angstgefühle zu erleben und zu verbalisieren. Frauen tendieren demnach dazu, Ängste offener zu zeigen als Männer (vgl. Shields, 2002). Frauen neigen in angstauslösenden Situationen eher zu Bewältigungsstrategien, die auf Fürsorge und soziale Bindung ausgerichtet sind, während Männer eher selbstbewusst und distanziert auftreten. Dies führt dazu, dass weibliche Ängste sichtbarer werden. Während diese erhöhte emotionale Offenheit Frauen verletzlicher für Angststörungen macht, kann sie aber auch als adaptive Bewältigungsstrategie verstanden werden, die soziale Bindungen stärkt und Unterstützung mobilisiert.


Solidarität als Chance, der Angst zu begegnen

Das ubiquitäre Phänomen Angst und seine individuelle und soziale Bewältigung sind Gegenstand verschiedener Forschungsansätze. Bereits in den 1980er-Jahren haben sozialepidemiologische Studien gezeigt, dass soziale Unterstützung einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung chronischer und anderer Krankheiten leisten kann (Badura, 1981). Soziale Unterstützung wirkt wie ein „Puffer“, der die negativen Auswirkungen von Angst und Stress abfedert. Sie hilft den Betroffenen, kritische Lebensereignisse besser zu bewältigen und fördert optimistische Einstellungen bei der Problemlösung (Brinkmann, 2021).

Bekannt geworden ist der Ansatz der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1997), der soziale Beziehungen und Solidarität als entscheidende Faktoren für die Bewältigung von Ängsten und die Förderung von Gesundheit ansieht. Antonovsky betont, dass ein verlässliches soziales Netzwerk und positive soziale Interaktionen wesentliche Ressourcen sind, die zur Stärkung des Kohärenzgefühls (sense of coherence) beitragen.

Die Mentalisierungstheorie von Anthony Bateman und Peter Fonagy (2015) betont die Bedeutung der Mentalisierung, also der Fähigkeit, sich selbst und andere als denkende, fühlende und von komplexen Motiven geleitete Wesen zu verstehen und zu interpretieren. Durch die Stärkung von Empathie und Verständnis kann Solidarität dazu beitragen, dass Menschen ihre emotionalen Zustände besser regulieren und Herausforderungen besser bewältigen können. Darüber hinaus fördert Solidarität das Vertrauen in andere, was wiederum die Fähigkeit zur Mentalisierung stärkt. Wenn Menschen Vertrauen in ihre sozialen Beziehungen haben, können sie sich sicherer fühlen und besser mit Ängsten umgehen (Fonagy & Nolte, 2023).

Als „ultra-kooperatives“ Wesen (Tomasello, 2010, S. 12) ist der Mensch schon immer stark auf seine Mitmenschen bezogen und hat Solidarität in einem elementaren Sinne praktiziert. Diese Form der Anteilnahme und wechselseitigen Unterstützung in allen Lebenslagen bezog sich historisch vor allem auf die nächsten Angehörigen und allenfalls auf die Mitmenschen, die man persönlich kannte. Sich solidarisch zu fühlen mit einer großen, anonymen Masse von Menschen, ist ein historisch neuer Gedanke, der von der Französischen Revolution als Brüderlichkeit erstmalig formuliert wurde. Mit dem Begriff der Brüderlichkeit wurde die Universalität des Solidaritätsgedankens proklamiert. Soziale Bewegungen, insbesondere die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung, griffen den Solidaritätsgedanken auf und machte ihn zu ihrem Leitmotiv.

In den 1960er- und 1970er-Jahren knüpften die Studentenbewegung und die neuen sozialen Bewegungen an den Solidaritätsgedanken an, füllten ihn aber auch mit neuen Inhalten.


Zwei Begriffe der Solidarität

Der Historiker Mark Tändler (2016) hat die 1970er-Jahre als das „therapeutische Jahrzehnt“ bezeichnet, weil in diesen Jahren das öffentliche Interesse an psychologischen Fragestellungen enorm zunahm, die psychotherapeutischen Ausbildungsinstitute einen regelrechten Boom erlebten und in dieser Zeit auch die Grundlagen dafür gelegt wurden, dass die psychotherapeutische Profession einen festen Platz im Gesundheitswesen erkämpfen konnte.

Der Historiker Gerd Koenen (2002), ehemaliger Aktivist der Studentenbewegung und Sprecher des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), nannte die 1970er-Jahre das „rote Jahrzehnt“. Eigentlich haben beide Autoren treffende Bezeichnungen gefunden, der eine für den politisierten, man könnte auch sagen überpolitisierten Teil der 68er-Bewegung, der andere für den Teil, der die Selbstveränderung als unverzichtbaren Bestandteil gesellschaftlicher Veränderungsprozesse ansah.

Für beide Strömungen der 68er-Bewegung war Solidarität ein zentraler Wert, der jedoch unterschiedlich definiert wurde. Die politischen Gruppen und Parteien verstanden Solidarität als Kampfbegriff. Solidarität wurde beschworen, um sich der eigenen Stärke in der politischen Auseinandersetzung mit dem Gegner zu vergewissern. Solidarität wurde als Schlagwort lautstark proklamiert. Manchen wird noch die Parole in den Ohren klingen, die auf Demonstrationen skandiert wurde: „Hoch die internationale Solidarität!“

Der zweite Solidaritätsbegriff – und der ist für die Psychotherapie der interessantere – zielte nicht in erster Linie auf die Außenwirkung. Vielmehr fand das „Lernziel Solidarität“ – so der Titel eines Bestsellers von Horst-Eberhard Richter (1974) – seine Erfüllung primär im praktischen Vollzug. Indem man sich solidarisch verhielt, veränderte man sich selbst und die Beziehung zu andern. Man verstand Solidarität als einen Lernprozess, dem man sich selbstbestimmt unterziehen wollte. Der Weg war zugleich das Ziel. Bei dieser Form der Solidarität geht es um Themen wie Gemeinschaftsgefühl, Zusammenhalt, Gruppenatmosphäre, Wir-Gefühl, Gruppenzugehörigkeit und Gruppenidentität.


Die Erfindung der Gruppe als neue „soziale Figuration“

Unmittelbar mit dem Solidaritätsgedanken verbunden ist das Konzept der selbstorganisierten, selbstbestimmten und emanzipatorisch orientierten Gruppe, die auf Hierarchien und Autoritäten weitgehend verzichtet. Die Gruppe zielt sowohl auf Gesellschaftsveränderung als auch auf Selbstveränderung. Die hierarchiefreie Gruppe stellt – um mit dem Soziologen Norbert Elias zu sprechen – eine historisch neue „soziale Figuration“ (Elias & Scotson, 2002) dar, die von den Emanzipationsbewegungen der 1970er-Jahre erfunden wurde. Die Gruppe wurde als Alternative sowohl zur traditionellen Kleinfamilie als auch zu den etablierten gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen verstanden.

Die besondere Leistung der Gruppe liegt in ihrer Vermittlungsfunktion: Einerseits ist sie eine familienähnliche soziale Figuration, insofern sie den persönlichen, emotionalen Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander eine besondere Bedeutung beimisst, andererseits trägt sie Züge einer sozialen Organisation, weil sie sich auch nach außen richtet und versucht, gesellschaftliche Prozesse zu beeinflussen. Von der traditionellen Kleinfamilie unterscheidet sich die Gruppe vor allem durch ihre Öffnung zur Gesellschaft, durch den Versuch, die soziale Isolation zu überwinden.

Zudem konnten in der Gruppe wechselseitige neurotische Verklammerungen der Mitglieder aufgebrochen werden, da die Gruppenbeziehungen jederzeit thematisiert und hinterfragt werden konnten. Damit verfügt die Gruppe über ein Potenzial der Selbstreflexion, über das weder die Familie noch gesellschaftliche Organisationen in dieser Weise verfügen, weil dort hierarchische Beziehungen dominieren, die soziale Tabus bedingen. In der Familie und in Organisationen dürfen viele Fragen erst gar nicht gestellt werden. In der Gruppe kann im Prinzip alles thematisiert werden.

Von den etablierten gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen – seien es Parteien, Gewerkschaften, Verbände oder Vereine – unterscheidet sich die Gruppe vor allem durch den Versuch, auf Formalisierung, Ritualisierung und Hierarchisierung zu verzichten und stattdessen darauf zu vertrauen, dass Konflikte durch offene Auseinandersetzung gelöst werden können. In der Gruppe sollen Intimität und Öffentlichkeit vermittelt werden.

Auf die Frage, wie sozialer Zusammenhalt hergestellt werden kann, gab die Gruppe mit der Idee der Solidarität eine neue und innovative Antwort. Solidarität ermöglicht es, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln und gleichzeitig die Autonomie und Selbstbestimmung des Einzelnen zu respektieren. In traditionellen Familien wird der Zusammenhalt durch andere Mechanismen gewährleistet, insbesondere durch Loyalität, Tradition, Familienehre und Internalisierung der elterlichen Autorität. Diese sozialen Mechanismen sind jedoch typischerweise asymmetrisch und basieren auf der Unterordnung des Individuums.

Die Solidaritätsidee der neuen sozialen Bewegungen inspirierte auch die basisdemokratische Neuorientierung des ehrenamtlichen Engagements und das Selbstverständnis der Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGO). Die verschiedenen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements spielen eine wichtige Rolle bei der Kanalisierung von Ängsten in solidarisches Handeln. Sie bieten Plattformen für Menschen, die sich aufgrund gemeinsamer Sorgen oder Bedrohungswahrnehmungen zusammenschließen.

NGO agieren als intermediäre Instanzen innerhalb der Zivilgesellschaft und fungieren als „Vermittler“ sowie als „Puffer zwischen Gesellschaft und Staat“. In Krisensituationen können sie als Katalysatoren für Solidarität fungieren, indem sie Menschen mit ähnlichen Ängsten und Sorgen zusammenbringen.

Während in der Gewerkschaftsbewegung Solidarität auf der gleichen Interessenlage beruht, wollen ehrenamtliche Aktivist*innen und NGOs Klassengrenzen gerade überschreiten. Die Aktivist*innen, die sich für benachteiligte Bevölkerungsgruppen engagieren, tun dies ausdrücklich aus ihrer privilegierten Situation heraus und nicht, weil sie die gleiche Klassenlage haben. Sie wollen solidarisch sein aufgrund von Sympathie, Mitgefühl und Empathie. Zum Teil spielen auch Gefühle von Scham, Schuld und Verantwortung eine Rolle. Sie verstehen ihre eigene Privilegierung als moralische Aufforderung, sich solidarisch zu verhalten.

Aber auch ein psychologischer Ertrag kann aus diesem Engagement gewonnen werden, nämlich sich psychisch und sozial zu vervollständigen. Die soziale Spaltung, die auf gesellschaftlicher Ebene zwischen verschiedenen Gruppen besteht, soll im solidarischen Handeln überwunden und versöhnt werden, indem man sich in den schwachen Anteilen des anderen wiedererkennt (Richter, 1974). Dies gilt z. B. für das Verhältnis zwischen den Generationen, für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, für das Verhältnis zwischen verfeindeten Ethnien oder Nationen und auch in der therapeutischen Beziehung.


Der Einfluss der neuen sozialen Bewegungen auf die Psychotherapie

Die Psychotherapie und die psychosozialen Berufe griffen die Anregungen der neuen sozialen Bewegungen zustimmend auf. Sie entdeckten das Veränderungspotenzial der Gruppe und nutzten sie als neue psychotherapeutische Behandlungsmethode im ambulanten und stationären Setting, als Mittel der Prävention, als Methode der psychotherapeutischen Ausbildung und Qualitätssicherung, als Forschungsmethode, als Mittel der eigenen Organisationsentwicklung.

Michael Lukas Moeller (1981) verband das neue Interesse an der Gruppe mit dem traditionellen Konzept der Anonymen Alkoholiker und entwickelte daraus das Konzept der Selbsthilfegruppe. Hier treffen sich Betroffene ohne fachliche Anleitung und ohne ideologische Ausrichtung, um über persönliche Probleme zu sprechen. Kulturell neu ist dabei die Bereitschaft, mit „Fremden“, d. h. mit Nicht-Familienmitgliedern und Nicht-Autoritätspersonen wie Ärzt*innen oder Geistlichen, über persönlich und emotional bedeutsame Themen zu sprechen.

Selbsthilfegruppen für Betroffene unterschiedlichster körperlicher, psychischer und psychosomatischer Erkrankungen sind heute ein allgemein anerkannter Faktor im Gesundheitswesen, dessen Wirksamkeit durch zahlreiche internationale Studien belegt ist (Matzat, 2018).


Lernziel Solidarität heute

Solidarität gehört nach wie vor zu den Werten, die in den westlichen Gesellschaften hochgehalten werden. Allerdings gerät Solidarität von verschiedenen Seiten unter Druck. Vor allem wird beklagt, dass der soziale Zusammenhalt abnimmt, weil sich die Gesellschaft zunehmend individualisiert. Ein Beleg dafür ist der dramatische Mitgliederschwund des Deutschen Gewerkschaftsbundes seit Mitte der 1990er-Jahre. Auch Parteien, Sport- und andere Vereine verzeichnen massive Mitgliederverluste.

Dennoch ist festzuhalten, dass die moderne Wohlstandsgesellschaft ein im historischen Vergleich hohes Maß an sozialer Kohäsion und Solidarität aufweist, die allerdings bürokratische Formen angenommen hat. Das gesamte System der privaten und staatlichen Versicherungen – von der Feuerversicherung über die Kranken-, die Unfall- bis zur Arbeitslosenversicherung – dient der Minderung von Risiken und stellt eine verrechtlichte und bürokratische Form der Solidarität dar. Nur das Gefühl kommt zu kurz. „Solidarität schrumpft auf ein abstraktes, emotional entleertes Prinzip“ (Frevert, 2020, S. 313). Wer Bürgergeld oder Krankengeld bezieht, empfindet weder soziale Zugehörigkeit noch Dankbarkeit, sondern nimmt emotionslos ein gesetzlich verbrieftes Recht in Anspruch. Die sozialen Bewegungen, die die Solidargemeinschaften erkämpft haben, haben sich in gewisser Weise selbst überflüssig gemacht. Ihr gesellschaftlicher Erfolg hat die Motivation, sie zu unterstützen, untergraben.


Instrumentalisierte Solidarität

Zum anderen gerät der Solidaritätsgedanke in Misskredit, wenn er auf die Durchsetzung von Partikularinteressen reduziert wird – und sei es die Bürgerinitiative, die nach dem Sankt-Florians-Prinzip gegen ein Windrad oder eine Stromtrasse in ihrem Einzugsgebiet kämpft. In solchen Fällen verliert Solidarität ihr emanzipatorisches Potenzial und verkommt zu einem instrumentell und egoistisch verkürzten Begriff.

Es ist eine neue Entwicklung, dass auch rechte und rechtspopulistische Bewegungen und Parteien den Solidaritätsbegriff als nützliches Instrument entdeckt haben. Sie versuchen, bei sozial und ökonomisch benachteiligten Gruppen zu punkten, indem sie sich als Verteidigende des Wohlfahrtsstaates inszenieren. Allerdings vertreten sie ein exklusives Verständnis von Solidarität, das Migrant*innen explizit ausschließt. Sie versuchen, die „Biodeutschen“ gegen die „fremden Eindringlinge“ auszuspielen. Unter den Anhänger*innen soll ein Solidaritätsgefühl und eine starke Gruppenidentität gefördert werden, die durch das Feindbild des Fremden untermauert wird. Rechtsextreme Parteien instrumentalisieren den Solidaritätsgedanken, um Anhänger*innen zu gewinnen.

Die enge, verschworene Solidargemeinschaft erzeugt eine Wir-gegen-die-Anderen-Mentalität, die nach innen Homogenisierung und Hierarchisierung vorantreibt und nach außen Feindbilder schafft. Diese Mechanismen lassen sich bei identitären Bewegungen unterschiedlicher Couleur beobachten. Auf diese Gruppen trifft der Typus der „paranoiden Festungs-Gruppe“ zu.

Diese Form der Instrumentalisierung des Solidaritätsbegriffs findet sich auch bei Gruppen, die sich dem linken und progressiven Lager zurechnen. Diese Gruppen inszenieren sich als Opfer oder Stellvertreter*innen von Opfergruppen und fordern von allen, mit denen sie zu tun haben, eine Zwangssolidarität. Die anderen sollen sich ohne Wenn und Aber ihrer Weltsicht anschließen oder sie werden selbst zu Feinden, die mit aller Schärfe bekämpft werden. Diese Form der Auseinandersetzung ist in den letzten Jahren vor allem bei Themen wie Gender, Postkolonialismus, Antirassismus und aktuell beim Krieg in Gaza zu beobachten. In all diesen Fällen wird der Solidaritätsgedanke instrumentalisiert, indem er nicht dazu dient, das humanistische Ideal von Gemeinschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zu fördern, sondern dazu, das eigene paranoide Weltbild zu bestätigen.


Solidarität mit der eigenen Gruppe und Feindschaft zur Fremdgruppe

Wie die sozialpsychologische Gruppenforschung zeigt, findet schon bei der Einteilung von Personen in zwei Gruppen anhand eines willkürlich gewählten Kriteriums – von Diehl (1990) als „minimales Gruppenparadigma“ bezeichnet – die Herausbildung einer Gruppenidentität statt. Es entsteht ein „Wir-Gefühl“ für die eigene Gruppe und ein Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber der Fremdgruppe. Für die eigene Gruppe (ingroup) entwickeln sich Gefühle von Zusammengehörigkeit, Loyalität und Gruppenidentität, während gegenüber der Fremdgruppe (outgroup) Gefühle von Distanziertheit, Fremdheit, Feindseligkeit und Abwertung empfunden werden.

Werden natürliche Gruppen, beispielsweise Fans von Fußballvereinen oder Anhänger*innen politischer Parteien, untersucht, kommt es vor allem dann zu Feindseligkeit, die sich bis zum Hass steigern kann, wenn die Differenzen zwischen den Gruppen auf moralischen Wertvorstellungen beruhen (Weisel & Böhm, 2015). Die gesellschaftliche Polarisierung, die während der Corona-Pandemie zu beobachten war, hat gezeigt, dass existenzielle moralische Fragen zu einer hoch emotionalisierten Feindbildung führen können.

Insgesamt belegen die sozialpsychologischen Studien zur Bildung von Vorurteilen, Feindbildern und Diskriminierung (Zick, 2017), dass Solidarisierungsprozesse regelmäßig zu aggressiven Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Fremdgruppen führen. Die Solidarisierung von Mitgliedern einer Gruppe hat eine Reihe von Konsequenzen. Zum einen führt sie zu einer Festigung der Gruppenidentität. Zum anderen resultiert aus der Solidarisierung eine Stärkung des Selbstwertgefühls und des Gefühls der Selbstwirksamkeit der Individuen, die sich mit der Gruppe identifizieren. In einer Vielzahl von Fällen geht die Stärkung der Gruppenidentität mit einer Abgrenzung und Entwertung anderer vor allem rivalisierender Gruppen einher. Die Identifikation mit der eigenen Gruppe sowie das Feindbild gegenüber anderen Gruppen resultieren in einer Selbstaufwertung. Diese psychosoziale Dynamik kann nur aufgehoben werden, wenn das Solidaritätskonzept verstanden wird als ein Prozess, der mit Toleranz und mit einer Erweiterung des Identitätsbegriffs einhergeht, bei dem sozial begrenzte Identitäten in übergreifenden Identitäten, letztlich in der Identifikation als Mensch und als lebendes Wesen aufgehoben werden (Schmidt-Denter, 2022). Dies setzt ein erweitertes Menschenbild voraus, das die existenzielle Vulnerabilität alles Lebendigen als Zentrum hat.


Solidarität und existenzielle Verletzlichkeit

Gegenwärtig sieht sich die Gesellschaft mit einer Vielzahl von Krisen und Katastrophen konfrontiert, darunter Klimakrise, Pandemien, Kriege, populistische Bewegungen und Regierungen. Der Soziologe Andreas Reckwitz (2024) betrachtet existenzielle Verlustängste als Kennzeichen der Spätmoderne. Sowohl die Gesellschaft als auch das eigene Leben werden sich ihrer Vulnerabilität bewusst. Dabei ist Vulnerabilität eine Tatsache, die alles Lebendige auszeichnet, wobei die Verletzlichkeit des Menschen besonders ausgeprägt ist. Sie bezieht sich sowohl auf seinen Körper, seine Psyche, seine sozialen Beziehungen und seine kulturellen Werke und gesellschaftlichen Organisationsformen. (Wirth, 2022, S. 241 ff). Vulnerabilität ist demnach nicht als „bloße punktuelle Anfälligkeit oder Schwachstelle einer gelingenden Lebensführung“ zu betrachten, „die es nach Möglichkeit zu vermeiden gilt“, sondern als ein „unhintergehbarer Teil der Conditio humana“ (Deutscher Ethikrat, 2022, S. 157). Die Verletzlichkeit des Menschen zeigt sich beispielsweise in seiner physiologischen Frühgeburtlichkeit (Portmann, 1941), in seiner nackten Haut und in der existenziellen Angst, die über die Furcht vor konkreten Gefahren hinausgeht (Fuchs, 2020).

Der Soziologe Heinz Bude hat in seinen Werken eine sozialpsychologische Analyse des Verhältnisses von Angst und Solidarität in modernen Gesellschaften vorgelegt. In seinem 2014 erschienenen Buch „Gesellschaft der Angst“ diagnostiziert Bude Angst als grundlegendes Strukturmerkmal moderner Gesellschaften (Bude, 2014). Diese Ängste sind laut Bude das Ergebnis des Zwangs zur permanenten Selbstoptimierung. Das daraus resultierende Gefühl, permanent unter dem eigenen Potenzial zu bleiben, führt dazu, dass man weder den eigenen Perfektionsansprüchen noch denen der Mitmenschen gerecht wird. Die Angst vor Entwertung sowie die Angst, von dem*der Partner*in oder Gegenüber verlassen zu werden, werden zur ständigen Bedrohung.

Als quasi-therapeutisches Gegenmittel plädiert Bude für die Entwicklung einer „postheroischen Solidarität“. Diese beruht auf der existenziellen Erfahrung der Vulnerabilität, wie sie exemplarisch während der Corona-Pandemie gemacht wurde.

Die „Erfahrung von Vulnerabilität“ wird für Bude somit zum Schlüssel für Solidarität. Auch die Privilegierten mussten erfahren, dass sie sich vor existenziellen Bedrohungen nicht retten können. Diese gemeinsame Verwundbarkeit schafft die Basis für ein neues, solidarisches Miteinander, das die partiellen Gruppenidentitäten transzendiert. Es ist postheroisch, da es nicht zum Kampf gegen einen Feind aufruft, sondern die existenzielle Verwundbarkeit des Menschen akzeptiert und zum Ausgangspunkt nimmt.


Fazit

Die vorliegende Arbeit untersucht die Bedeutung von Solidarität als ein fundamentales Mittel zur Bewältigung von existenzieller Angst und existenzieller Verletzlichkeit. Es wird argumentiert, dass jeder Mensch von Geburt an und während seines gesamten Lebens auf solidarische Unterstützung, Anerkennung und Wertschätzung durch andere sowie auf das Eingebundensein in die menschliche Kultur angewiesen ist. Ein Menschenbild, das Verwundbarkeit als ein universelles menschliches Merkmal betrachtet, widerspricht der Vorstellung von Autarkie und Selbstgenügsamkeit. Die Anerkennung einer anthropologischen Vulnerabilität schafft eine Basis für Solidarität, indem sie das Angewiesensein auf Unterstützung und Anerkennung anerkennt.


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Hans-Jürgen Wirth
Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth
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Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth, Psychoanalytiker, ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt, psychodynamisch orientierter Paar- und Familientherapeut in eigener Praxis in Gießen und Gründer des Psychosozial-Verlags.

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Wirth, H.-J. (2025). Angst und Solidarität: Psychologische und gesellschaftliche Aspekte. Psychotherapeutenjournal, 24 (3), 251–258. https://doi.org/10.61062/ptj202503.004