■Die Macht der Diagnosen – Looping-Effekte und die Folgen für die Psychopathologie ■Neuropsychologische Psychotherapie im Approbationsstudium – Quo vadis? ■Gruppenpsychotherapeutische Grundversorgung – Offene Einstiegsmöglichkeiten aus verhaltenstherapeutischer Sicht ■Zwangsstörung bei Erwachsenen: Frei verfügbare Diagnoseinstrumente ■Von hartnäckigen Fiktionen und unbequemen Wahrheiten über die Dissoziative Identitätsstörung: Ein Faktencheck aus wissenschaftlicher Perspektive Psychotherapeuten journal www.psychotherapeutenjournal.de | ISSN 1611-0773 | D 60843 | 24. Jahrgang | 18. März 2025 PTJ 1/2025 (S. 1–104)
Geschlechtersensible Sprache Das Psychotherapeutenjournal empfiehlt im Sinne eines geschlechtersensiblen Sprachgebrauchs für die Bezeichnung von Personen oder Gruppen, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, die Verwendung des sog. Gendersternchens (z. B. „Psychotherapeut*innen“, „ein*e Psychotherapeut*in“), sofern es keine sprachlich etablierte geschlechtsneutrale Formulierung gibt. Alternativ besteht die Möglichkeit, texteinheitlich die Paarschreibweise mit männlicher und weiblicher Form (z. B. „Psychotherapeutinnen und -therapeuten“, „eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut“) heranzuziehen. Bitte beachten Sie, dass auch in diesem Fall Personen mit non-binärer Geschlechtsidentität immer ausdrücklich mitgemeint und angesprochen sind. Zur Begründung dieser Sprachregelung lesen Sie bitte das Editorial in Ausgabe 4/2021.
Liebe Kolleg*innen, Editorial Donald Trump erneut zum Präsidenten der USA gewählt, anhaltende Kriege in der Ukraine und außerhalb Europas, Erstarken rechtspopulistischer Kräfte auch in Deutschland, gesellschaftliche Spaltungsprozesse, vorzeitiges Ende der „Ampel“-Regierung, verheerende Umweltkatastrophen usw. Dies zeigt nur beispielhaft die großen globalen Herausforderungen, die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche wie auch die damit einhergehenden ökologischen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind. Die Lage erscheint so unwirklich wie unvorhersagbar und man ist vielleicht versucht, bei dem ganzen Kaleidoskop erschütternder Ereignisse einfach nur noch teilnahmslos zu- oder sogar wegschauen zu wollen. Aber auch wenn man den Blick von der beschriebenen Makro- auf die Mikroebene der Psychotherapie richtet, könnten die Versuchung der Teilnahmslosigkeit oder Vermeidungstendenzen ihren Widerhall finden. So fordert uns gerade die Einführung der ePA, die immer noch nicht stehende Finanzierung der Weiterbildung mit der damit einhergehenden Ungewissheit über die Zukunft unseres Berufsstandes, die weiterhin mangelhafte Bedarfsplanung usw. Man könnte den Eindruck gewinnen, die To-Do-Liste an Aufgaben und ungelösten Problemen wirkt verstärkend auf den Engpass in der Versorgung ein. Dennoch sollten wir trotz oder gerade wegen dieser Widrigkeiten nicht vergessen, warum wir diesen Beruf für uns gewählt haben, weiter die Faszination für die individuelle Entwicklung des Menschen beibehalten und eine Bereicherung in der Begleitung dieser Prozesse erleben. Daraus resultieren immer wieder aufs Neue besondere Erfahrungen, Begegnungen und darüber hinaus auch unerwartete Erkenntnisse, die bisweilen sowohl für Behandelnde als auch für Patient*innen gewinnbringend sein können. Die Auseinandersetzung, die den Beiträgen auch der vorliegenden Ausgabe zugrunde liegt, zeigt immer wieder die nicht enden wollende Neugier unserer Berufsgruppe auf den Menschen. So könnte man – frei nach Gregory Bateson und im Sinne der lösungsfokussierten Therapie – sagen: „Der Unterschied, der den Unterschied macht, ist Neugier.“ Trotz der beschriebenen schwierigen Entwicklungen in der Welt bleibt die Neugier unser Kompass und die treibende Kraft unseres Handelns. Sie lässt uns innehalten, hinterfragen und neue Perspektiven entdecken. Daraus folgernd wäre doch die Frage zu stellen: Was hilft uns Psychotherapeut*innen dabei, weiterhin neugierig zu bleiben? Eine erste Antwort könnte in unserer Faszination für menschliches Wachstum und in der Erfahrung sich immer wieder neu erschließender Erkenntnisse zu finden sein. Daher sollten wir nicht müde werden, uns weiterhin überraschen zu lassen, und uns offen zeigen für Möglichkeiten der Entwicklung. Und es muss nicht beim bloßen Reflektieren und Reagieren bleiben. Vielmehr sollten wir auch aktiv die eigenen Potenziale nutzen, um unsere Patient*innen bei der Annahme und Bewältigung der äußeren Herausforderungen zu unterstützen. Zugleich sollten wir als Profession unsere Möglichkeiten dafür ausloten, unsere Expertise auch in gesellschaftliche Prozesse einzubringen. Es ist nicht immer leicht, in diesen Zeiten Neugier und auch Zuversicht zu bewahren und sich nicht von der allgemeinen Verunsicherung und Stagnation im Problemdenken leiten zu lassen. Umso mehr sollte jede*r von uns sorgsam achtgeben auf den Erhalt der Neugier als innerer Orientierung und Verantwortung. Wir sind uns sicher, dass die Artikel wie auch die Berichte der Landeskammern in dieser Ausgabe einen gelungenen Beitrag zur Erweckung bzw. Aufrechterhaltung dieser Neugier leisten. Sie sind bereits am Lesen und, wie wir hoffen, im besten Sinne neugierig auf das, was kommt! Jörg Hermann & Holger Grotjohann (Niedersachsen) Mitglieder des Redaktionsbeirats 1/2025 Psychotherapeutenjournal 1
Inhalt Originalia Inhalt Thorsten Padberg Die Macht der Diagnosen. Looping-Effekte und die Folgen für die Psychopathologie Psychologische Kategorien unterliegen Looping-Effekten, der Austausch zwischen Betroffenen, Ärzt*innen und Medien verändert ihre Bedeutung. Dies kann sowohl die gesellschaftliche Wahrnehmung als auch das individuelle Selbstbild beeinflussen. Dies erschwert ggf. die Behandlung, während konstruktivere Beschreibungen für Verständnis und Bewältigung gefragt wären. Mathias Klinghammer, Patrizia Thoma & Jutta Billino Neuropsychologische Psychotherapie im Approbationsstudium – Quo vadis? Neuropsychologische Psychotherapie ist verbindlich in der reformierten Approbationsordnung für Psychotherapeut*innen vorgesehen. Aufgrund fehlender struktureller und personeller Grundlagen muss hierfür grundsätzliche Aufbauarbeit bei der Entwicklung geeigneter Lehrkonzepte geleistet werden. Der Artikel gibt Umsetzungsbeispiele, wie dabei mit verschiedenen Herausforderungen umgegangen und Studierenden eine hochwertige und attraktive neuropsychologische Lehre angeboten werden kann. Angela Schrameier Gruppenpsychotherapeutische Grundversorgung. Ein offener Einstieg in die Gruppenpsychotherapie aus verhaltenstherapeutischer Sicht Das neu geschaffene, zusätzliche Angebot der „Gruppenpsychotherapeutischen Grundversorgung“ ermöglicht therapiebedürftigen Menschen, die Gruppentherapie unverbindlich kennenzulernen. Dieser Artikel beschreibt Strukturen für erste Gruppenstunden, die Hemmschwellen abbauen und Zuversicht in eine gelungene Gruppenpsychotherapie der individuellen Erkrankung hervorrufen sollen. Barbara Cludius, Jan C. Cwik, Jakob Fink-Lamotte, Melanie S. Fischer, Franziska Kühne, Celina L. Müller, Tatjana Paunov & Tilo Zotschew Zwangsstörung bei Erwachsenen: Frei verfügbare Diagnoseinstrumente In diesem Artikel werden verschiedene kostenfrei verfügbare Instrumente für eine angemessene Eingangs- und Verlaufsdiagnostik bei der Zwangsstörung im Erwachsenenalter vorgestellt. Die Auswahl umfasst Fragebögen und Interviews für Screening, Diagnosestellung, Schweregradeinschätzung, Verlaufsdiagnostik sowie die Erhebung weiterer Aspekte, wie der Lebenszufriedenheit und Familienakkommodation. Philipp Herzog, Tim Kaiser & Rafaële J. C. Huntjens Von hartnäckigen Fiktionen und unbequemen Wahrheiten über die Dissoziative Identitätsstörung: Ein Faktencheck aus wissenschaftlicher Perspektive Der Artikel beleuchtet aus wissenschaftlicher Sicht gängige Annahmen in der klinischen Praxis über die Dissoziative Identitätsstörung (DIS). Das Störungsbild wird vorgestellt, bevor verbreitete Irrtümer gegen die aktuelle Evidenzlage kontrastiert werden. Dabei führen wir die wichtigsten theoretischen Modelle zur Erklärung der DIS auf, zeigen Behandlungsmöglichkeiten auf und geben Empfehlungen für die Praxis. 4 12 22 28 37 2 Psychotherapeutenjournal 1/2025
Bundespsychothera- peutenkammer Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg 80 Hessen 82 Niedersachsen 86 Nordrhein-Westfalen 90 Ostdeutsche Psychotherapeutenkammer 94 Rheinland-Pfalz 98 Saarland 100 Schleswig-Holstein Rezensionen 48 49 50 Mitteilungen der Psychotherapeutenkammern Editorial Leserbriefe und Replik Impressum Psychotherapeutenjournal Stellen- und Praxismarkt des medhochzwei Verlages Impressum Stellen- und Praxismarkt des medhochzwei Verlages 56 61 65 69 73 76 1 51 104 A1 A16 Kinderpsychoanalytikerinnen als „Ersatzmütter“ Eine Rezension von Christa Rohde-Dachser: Ludwig-Körner, C. (2022). Und sie fanden eine Heimat. Zum Leben und Wirken der Mitarbeiterinnen von Anna Freud. Psychotherapie erfolgreich gestalten: Forschungsergebnisse für die eigene Praxis nutzen Eine Rezension von Daniel Jäger: Gmelch, M. (2024). Psychotherapie von Anfang bis Ende. Schritt für Schritt durch den therapeutischen Prozess. Warum es besser ist, Gutes zu erwarten Eine Rezension von Wolfgang Schmidbauer: Haghiri, S. (2024). Mit Nachsicht. Wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann. Hinweise: Diese Ausgabe können Sie auch als PDF-Dokument von der Internetseite www.psychotherapeutenjournal.de herunterladen. 1/2025 Psychotherapeutenjournal 3
Die Macht der Diagnosen Looping-Effekte und die Folgen für die Psychopathologie Thorsten Padberg Zusammenfassung: Psychische Diagnosen werden durch sogenannte Looping-Effekte beeinflusst: Der Austausch zwischen Betroffenen, Ärzt*innen und Medien verändert die Begriffe selbst und die Wahrnehmung der Klient*innen. Neue Symptome wie „mangelnde Objektpermanenz“ bei ADHS entstehen oft außerhalb wissenschaftlicher Diskurse, etwa durch Influencer*innen. Diese Entwicklungen führen manchmal zu erhöhter emotionaler Fragilität. Studien zeigen, dass nicht jede Diagnose hilfreich ist: Menschen mit leichteren Symptomen, die diagnostiziert wurden, berichten von negativeren Verläufen als unbehandelte Personen. Kritik richtet sich an die Fixierung auf Krankheitskategorien, die zwar Aufmerksamkeit schaffen, aber die Bewältigung oft erschweren. Stattdessen sollten dynamische Verstehensansätze gefördert werden, die Handlungsmöglichkeiten und ein tieferes Selbstverständnis betonen. Konversionen Medizinische Untersuchungen finden keine Ursache für die plötzlich aufgetretenen Tic-Störungen. Doch die Neurologin Jennifer McVige, die einige der Jugendlichen untersucht, stellt sehr bald eine erste Diagnose: „Konversionsstörung“. „Was hier passiert, ist, dass es einen Stressor oder mehrere Stressoren gibt, die eine physische Reaktion im Körper produzieren“, erklärt sie. „Das passiert unterbewusst, niemand tut das mit Absicht.“2 Die Konversionsstörung gilt als „Störung aus der Kategorie der Somatoformen Störungen, die durch ein oder mehrere Symptome oder Ausfälle der willkürlichen motorischen oder sensorischen Funktionen gekennzeichnet ist“3. In der ICD-10 fallen sie unter die sonstigen dissoziativen Störungen, ihre Codierung würde F44.82 lauten: „Transitorische dissoziative Störungen in der Kindheit“.4 Kaum jemand glaubt der Neurologin. Thera sagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das eine Kopfsache ist. Man wacht nicht eines Tages auf und sowas ist plötzlich einfach da.“ Die Umweltaktivistin Erin Brockovich, die durch die Berichterstattung auf den Tic-Ausbruch in Le Roy aufmerksam geworden ist, will sich des Falles annehmen. Sie vermutet, ein Zugunglück 40 Jahre zuvor in der Nähe kleinen Stadt könnte zu einer Verseuchung des Bodens der Schule geführt haben. Das Leiden der Mädchen sei demnach physiologisch, Folge einer Vergiftung. Das Zugunglück fand allerdings fast fünf Kilometer von der Schule entfernt statt. Eine Untersuchung Le Roy, upstate New York Lassen Sie uns ein paar Jahre zurückgehen. Es ist Ende 2011, als die 16-jährige Thera Sanchez auffällig wird. Das Internet spielt noch keine ganz so große Rolle wie heute. Thera ist keine Influencerin, sie hat keine Follower*innen. Wenn sie später in den Medien auftritt, geht es nicht darum, irgendetwas zu verkaufen oder zu vermarkten. Thera will nichts erklären oder vermitteln. Sie will nur Hilfe. Thera geht es nicht gut. Sie will Hilfe für ein Problem, bei dem ihr bisher niemand helfen konnte. Thera hat Tics. Tics, die ihr Leben so stark beeinträchtigen, dass sie nicht mehr schlafen kann, ihr kein Raum für Freizeit bleibt. Auch ihr Schulabschluss ist gefährdet. Theras Tics sind über Nacht gekommen. Einfach so. Es fing mit Stottern an, dann begannen ihre Hände zu zucken, manchmal ihr ganzer Körper. Seit dieser Nacht wird ihr Körper nicht mehr nur von ihr, sondern auch von Impulsen gesteuert, die jenseits ihrer Kontrolle liegen. Thera braucht Hilfe, niemand weiß, welche. Ein paar Wochen später, Mitte Januar 2012, hat Thera zwar keine Hilfe gefunden, aber wie man auf dem Nachrichtensender CNN sehen kann, ist sie nicht allein damit. Lydia Parker, eine Freundin von Thera, hat jetzt dasselbe Problem. Sie zuckt und schüttelt sich, aus ihrem Mund kommen Laute, die sie nicht unterdrücken kann. CNN erzählt sie: „Die Neurologen sagen, sie finden nichts. Aber sie suchen weiter.“ Und Lydia ist nicht die Einzige, die inzwischen Theras Problem teilt. In Le Roy, einer kleinen abgelegenen Stadt ganz im Norden des Bundesstaats New York, ist inzwischen ein ganzes Dutzend dieser Fälle bekannt. Nur neun Tage später sind es schon 15, wenig später 20. Theras Tics verbreiten sich wie Windpocken. Eine bunte Gruppe sehr unterschiedlicher Charaktere ist betroffen, doch es gibt auch Gemeinsamkeiten: Fast alle sind Mädchen im TeenagerAlter, nur ein einziger Junge ist darunter sowie eine Frau im Alter von 36 Jahren. Und fast alle gehen in dieselbe Schule.1 1 Die Geschichte der Tic-Störungen in Le Roy wird im Podcast „Hysterical“ von Dan Tabersky (2024) nacherzählt. 2 CNN. (2012). Anderson Cooper 360° vom 19.01.2012. Online verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=JcKL8ihDL2Y [31.01.2025]. Alle englischsprachigen Zitate wurden vom Autor ins Deutsche übersetzt. 3 https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/konversionsstoerung. 4 Nach der ICD-11 würde die Codierung 6B6Y lauten. 4 Psychotherapeutenjournal 1/2025
der Schulleitung hatte Umweltgifte bereits ausgeschlossen, genauso wie Infektionskrankheiten. Um zu verstehen, was in der kleinen Stadt Le Roy, ganz im Norden des Bundesstaates New York kurz vor der Grenze zu Kanada passiert, benötigen wir eine Grundlage. Ein theoretisches Gerüst, das erklärt, wie aus Tics – seltenen neurologischen Phänomenen, die meist als körperlich und genetisch bedingt gelten – ein psychisches Phänomen wird, das zudem auch noch äußerst ansteckend ist. Menschenarten Die Psychologie versteht sich als interdisziplinäres Fach. Um ihren komplexen Gegenstand umfassend beschreiben zu können, braucht es vielfältige Ansätze, doch bleibt es oft bei wenigen Querverbindungen. Am prominentesten ist die Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaften. Dabei gibt es mindestens eine weitere Disziplin, die für die Forschung an der Psyche hilfreich sein kann, nämlich die Philosophie. 2012 wurde ein Essay des Sprachphilosophen Ian Hacking in einem schmalen Band mit dem Titel Menschenarten mit fast zwanzig Jahren Verzug auch auf Deutsch veröffentlicht. Das darin beschriebene Konzept der „human kinds“ ist schwer zu übersetzen, weswegen die deutsche Buchausgabe zusätzlich den englischen Titel auf dem Cover trägt: „The looping effect of human kinds“, der Looping-Effekt der Menschenarten. Es ist eine kurze Abhandlung über zwei verschiedene Klassen von Konzepten, die voneinander abweichende Eigenschaften aufweisen. Das klingt sehr theoretisch, aber die von Hacking beschriebene Unterscheidung ist für Psycholog*innen äußerst praxisrelevant. Hacking beschreibt in Menschenarten zwei Arten von Kategorien: auf der einen Seite die natürlichen Arten, sie beziehen sich auf die unbelebte Welt, auf der anderen die menschlichen Arten, sie beziehen sich auf das Verhalten von Menschen. Zentral für unser Anliegen ist der folgende Unterschied: Natürliche Arten sind indifferent, während menschliche Arten interaktiv sind. Was meint Hacking damit? Die Gegenstände der Welt interessiert es nicht, wenn man sie mit Namen belegt und in Gruppen einsortiert. Einem Tisch ist seine Zuordnung in die Kategorie der Esstische, Holztische, Beistelltische oder vierbeinigen Tische gleichgültig. Auch die meisten Menschen, die davon hören, werden vermutlich kaum starke Reaktionen darauf haben. Entsprechend nennt Hacking die natürlichen Arten indifferent, weil ihnen (und zumeist auch denen, die sie gebrauchen) ihre Verwendung, salopp gesagt, egal ist. Das ist bei der Einordnung von Menschen in Kategorien, in menschliche Arten, anders. Es ist uns nicht egal, ob wir zu den „weißen, alten Männern“ gezählt werden, ob man uns „zwanghaft“, „aufmerksamkeitsgestört“ oder „asozial“ nennt. Es macht uns etwas aus, wenn man uns als „wenig selbstbewusst“, „autoritär“ oder „narzisstisch“ beschreibt. All dies sind Kategorien, die uns einer bestimmten Art von Menschen, den „Narzisst*innen“, „den Zwanghaften“ zuordnen, eben einer human kind. Und Menschen reagieren auf diese Zuschreibungen. Etwa indem sie bestimmte Verhaltensweisen, von denen sie gehört haben, dass sie als „narzisstisch“ (eine unpopuläre Kategorie) gelten, seltener zeigen oder diese zumindest besser verstecken. Deswegen nennt Hacking die menschlichen Arten interaktiv, auf ihre Anwendung folgt eine Reaktion. Und diese Reaktion besteht, wie wir im Folgenden sehen werden, aus verschiedenen Formen von Rückkopplungsschleifen oder eben: Looping-Effekten. Sprachphilosophisch ist diese Unterscheidung ein Kraftakt, den Hacking in seinem Text ausführlich begründet. Letztlich macht er damit einfach auf etwas aufmerksam, das offensichtlich ist, jedoch nur selten besonders beachtet wird: „Die Reaktionen von Menschen auf die Versuche, sie zu verstehen oder zu verändern, sind andere als die Reaktionen von Dingen“ (Hacking, 1995a, S. 370). Hacking (1986, S. 166) meint selbst dazu: „Das ist alles trivialer, als es aussieht“. Dennoch ist dies die zentrale Unterscheidung, die Sie aus der Lektüre dieses Textes mitnehmen sollten: Wenn wir Dinge kategorisieren, dann gibt es natürliche Arten, die indifferent sind. Bei ihnen macht es keinen Unterschied, wenn diese Kategorie angewandt und ausgesprochen wird. Und es gibt menschliche, interaktive Arten. Hier macht es einen großen Unterschied, ob darüber gesprochen wird. Und damit sind wir auf unserem kurzen Ausflug in die Philosophie schon wieder unterwegs Richtung Psychotherapie. Denn über eine bestimmte Art von Kategorien wird in letzter Zeit besonders häufig gesprochen: die Klassifikation psychischer Störungen, wie wir sie in der ICD und im DSM finden. Und bei diesen Störungskategorien entstehen mehrere Arten von Looping- oder Rückkopplungseffekten. Weil Menschen auf ihre Diagnosen reagieren/sie überdenken/sie für sich „verarbeiten“, bewirkt der Erhalt einer Diagnose (oder der Glaube, eine solche Diagnose zu haben) eine Veränderung in der Person. Looping I: Konversationen von Betroffenen Über psychische Probleme aufzuklären, ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, jedes größere Problem sei automatisch Für eine sprechende Disziplin wie die Psychotherapie ist besonders die Sprachphilosophie interessant, also die Untersuchung von Begriffen. 1/2025 Psychotherapeutenjournal 5 T. Padberg
eine psychische Störung, ist eine Gratwanderung. Es besteht die Gefahr, dass immer mehr negative Gemütszustände und Erlebnisse als potenziell krankhaft eingeordnet werden. In einer Umfrage unter 1.000 jungen Menschen glaubten 68 Prozent, sie hätten aktuell Probleme mit ihrer mentalen Gesundheit oder früher solche gehabt. Aus dieser Gruppe gaben 62 Prozent an, sie hätten diese Probleme bei sich selbst durch Entstigmatisierungskampagnen entdeckt (Banham, 2019). Auf sozialen Medien trendet aktuell u. a. der Begriff „high functioning anxiety“. Man lernt, welche „drei Dinge“ (oder „fünf“ oder auch „zehn“) auf „hochfunktionale Angst“ hinweisen. Haben Sie hohe Standards und neigen Sie zu Perfektionismus? Dann sind das Zeichen für hochfunktionale Angst. Verbringen Menschen gerne Zeit mit Ihnen, Sie sehen sich selbst dabei aber als „People Pleaser“? Dann sind auch das Zeichen für diese besondere Form der Angststörung. Manche Akteur*innen auf TikTok oder X (ehemals Twitter) beschreiben ein weitgehend normales Leben, dessen Beschwerlichkeiten sie aber für typische Zeichen einer schweren Krankheit halten. Für Autismus, eine Störung, die sich u. a. in Kontaktschwierigkeiten zeigt, sei die Beschäftigung mit „abseitigen“ Hobbys üblich, erklärt seinen zehntausenden Anhänger*innen ein Influencer, der angibt, auch selbst daran zu leiden. Im konkreten Fall gemeint sind: Popmusik, Science-Fiction und der Eurovision Song Contest. Zugleich gelte aber auch, dass man sich sehr für helfende Berufe interessiere, weil man sehr empathisch sei. Dazu passt dann, dass man sich als echte*r Autist*in über falsche Versprechungen ärgere. Wer dagegen gern immer wieder dasselbe Stück Musik höre, erklärt eine andere, der betreibe „Stimming“ also rhythmische Selbststimulation, wie sie typisch für „ADHSler“ sei, die versuchen, das für sie passende Niveau von Reizen herzustellen. Der Alltag wird zur Fundgrube für Krankheitssymptome. Der Professor für Klinische Psychologie Nicolas Haslam, der an der Universität Melbourne mithilfe von computergestützten Analysen die Verwendung von psychiatrischen Kategorien untersucht, erklärt dazu: „Was wir aus unserer Forschung wissen, ist: Je mehr über diese [psychiatrischen Diagnosen] gesprochen wird, desto ungenauer werden die Begriffe benutzt“ (pers. Mitt.). Immer mehr psychische Notlagen werden nicht nur als belastend, sondern auch als behandlungsbedürftig angesehen. Besonders junge Menschen wachsen heute mit diesen stark erweiterten Krankheitsbegriffen auf, werden sie doch ständig auf sozialen Medien besprochen und wie selbstverständlich auf alle möglichen Gemütszustände angewendet (Cunnife, 2024; Orben et al., 2024; Tse & Haslam, 2024). Kurzvideos rund um das Thema ADHS auf TikTok verzeichneten im Jahr 2022 über 2,4 Milliarden Aufrufe. Typische Kommentare lauten: „Jetzt, wo ich das gesehen habe, glaube ich, ich habe das auch.“ Oder: „Plötzlich denke ich, ich muss mich mal untersuchen lassen“ (Williams, 2022). Statt zu sagen, ich habe Angst, lernen junge Menschen gerade, sie hätten Angststörungen. Statt festzustellen, dass sie auch einmal depressiv sind, lernen sie, dass sie Depressionen haben – also unter einer Erkrankung leiden, die, wie sie dann hören, potenziell tödlich verläuft. Die Psychologin Lucy Foulkes, die zur psychischen Gesundheit von Jugendlichen an der Oxford University forscht, meint zu alldem: „Hochfunktionale Angst ist keine Diagnose, es ist ein Hashtag“ (Foulkes et al., 2024). Foulkes befürchtet, dass der ständige Hinweis auf die psychische Gesundheit „ironischerweise dazu führt, dass die psychische Gesundheit schlechter wird“. Sie hat drei Schritte beobachtet: Zunächst ein verbessertes Bewusstsein für eigene negative Gefühle, wenn diese in Kampagnen und vielen Medien besprochen werden. Dann eine Überinterpretation, wenn die Gefühle ausnahmslos als „gefährlich“ oder „krankhaft“ beschrieben werden. Und zuletzt eine selbsterfüllende Prophezeiung, wenn es durch die Angst vor der Angst und das deprimierte Betrachten der eigenen Depression den Betroffenen tatsächlich noch schlechter geht als vorher. Der letzte Schritt liefert dann „neues Futter“ für den ersten, und es geht wieder von vorne los: mehr Bewusstsein – Überinterpretation – selbsterfüllende Prophezeiung und immer so weiter. Ein sich selbstverstärkender Kreislauf ist entstanden (Foulkes, 2022). In eine ähnliche Richtung denkt Professor Haslam: „Wenn man sich selbst als nicht nur ein bisschen traurig und gestresst beschreibt, sondern als jemand, der eine klinische Depression hat, dann glaubt man, dass man weniger Kontrolle darüber hat und es länger anhalten wird. Man hat das Problem durch den Begriff Depression zu einem Ding in der eigenen Person gemacht. Das kann es schlimmer machen, denn man blickt jetzt pessimistischer in die Zukunft.“ Und wenn man anfange, seine Alltagssorgen als Angststörung anzusehen, könne das dazu führen, dass man Dinge zu vermeiden beginnt, denen man sich besser gestellt hätte: „Diese Vermeidung verschlimmert die Angst. Und so wird dadurch, dass man sich mit so einer Angststörung identifiziert, die Angst schlimmer.“ All dies sollte insbesondere den Verhaltenstherapeut*innen unter uns nicht fremd sein. Denn der geschilderte Ablauf entspricht weitgehend einem Teufelskreis der Angst, wie wir ihn z. B. Patient*innen mit Panikattacken vermitteln. Nur dass dieser hier nicht nur auf Angstsymptome, sondern auf ein breites Spektrum von Symptomen, Verhaltensweisen und Gefühlen angewendet wird. Fangen die Betroffenen an, online gezielt nach ihren Störungen zu suchen, verstärken die auf solchen Plattformen genutzten Algorithmen diesen Prozess. Er zeigt ihnen immer weitere Beiträge mit ähnlichen Inhalten (Chevalier, 2024).5 Daraus entsteht auf TikTok während der Corona-Pandemie, zehn Jahre später und ähnlich wie in Le Roy, eine Welle von selbstdiagnostizierten „Tourette“-Störungen – nur dass die Welle diesmal verstärkt durch das soziale Medium 5 Zu den hier kursiv ausgewiesenen Kurztiteln finden Sie ausführliche bibliographische Angaben am Ende des Artikels, das vollständige Literaturverzeichnis auf der Homepage der Zeitschrift unter www.psychotherapeutenjournal.de. 6 Psychotherapeutenjournal 1/2025 Die Macht der Diagnosen
noch deutlich größer ausfällt. Spezialkliniken in Australien, Großbritannien und den USA verzeichnen eine drastische Vervielfachung von Patientenvorstellungen, die keine echte Tourette-Störung aufweisen. Videos mit dem Hashtag #tourettes wurden bis 2023 über 7,3 Milliarden Mal angeschaut (Gorayshi, 2023). Tourette, wie es sich in den Diagnosekatalogen findet, beginnt meist in der frühen Kindheit, betrifft vorwiegend Jungen und zeichnet sich durch individuell ausgeprägte Tics aus (vgl. Ludolph et al., 2012). Das Klientel, das jetzt in den Kliniken gesehen wird, ist überwiegend weiblich, heranwachsend und hat erst kürzlich und plötzlich mit den Tics begonnen. Zudem sind die gezeigten Tics einander sehr ähnlich. So stoßen viele die Worte „Beans“ und „Beetroot“ aus und es wird viel mit der Faust auf die eigene Brust geschlagen. Genauso, wie es auf TikTok zu sehen ist. Looping II: Konzeptionen von Profis Inspiriert von den Arbeiten von Ian Hacking hat Professor Haslam von der Universität Melbourne angefangen, sich die interaktiven Menschenarten, wie sie in der Psychologie verwendet werden, genauer anzusehen. Was passiert mit den Fachbegriffen, wenn sie immer wieder besprochen werden? Doch lag sein Augenmerk dabei weniger auf der Verwendung der Begriffe durch Lai*innen als auf dem Gebrauch durch Fachleute. Er wollte wissen: Gibt es auch hier eine Verschiebung im Laufe der Zeit? Nachdem er dazu die verschiedenen Ausgaben des Diagnosekatalogs DSM analysiert hatte, lautete die Antwort: eindeutig ja. „Gleich einer Amöbe“, schloss Hacking (2016, S. 5), verleibe sich das Konzept der psychischen Störung immer neue Verhaltensweisen ein. Er prägte für seine Beobachtungen den Begriff concept creep, der für die schleichende Veränderung psychopathologischer Kategorien steht. Er fand eine horizontale Ausweitung der Begrifflichkeiten, durch die eine immer größere Zahl von Phänomenen als Störungen gilt. Vertikale Ausweitung bedeutet, dass Probleme weniger tiefgreifend sind und trotzdem unter die Störungskategorien fallen. So wurden in der ersten Klassifikation des DSM Schlafstörungen und Substanzmissbrauch nicht unter psychischen Störungen gelistet, ab der zweiten Auflage jedoch schon, ein klassisches Beispiel für horizontale Ausweitung. Neuaufnahmen im DSM-III waren u. a. Bulimie, Tourette, Genderdysphorie, Anorgasmie, kognitive Schwierigkeiten in der Kindheit, Dyslexie und „unsichere Erwachsene“ (Hacking, 2016, S. 7). Und das DSM-5 benennt erstmals die Verhaltenssüchte als psychische Störung. Typisch für die vertikale Ausweitung, bei der die als psychische Störung gelisteten Probleme immer leichter (oder „seichter“) werden, ist die Verkürzung der Zeitspanne, die für starke Traurigkeit nach dem Tod eines nahen Angehörigen als gesund gilt. Während die DSM-III-Kriterien Trauerreaktionen bis zu einem Jahr als normal einstuften, wurde dies im DSMIV auf zwei Monate reduziert. Seit dem DSM-5 gelten maximal zwei Wochen als normal — eine drastische Verkürzung im Vergleich zu den ursprünglichen zwölf Monaten. Auch bei der Posttraumatischen Belastungsstörung, die erstmalig im DSM-III eingeführt wurde, erkennt Haslam ständig verschobene Grenzen. Zuerst musste das Erlebte noch „außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrungen“ liegen. Das DSM-III-R lockerte dieses Kriterium. Nun reichte es aus, ein schlimmes Ereignis zu beobachten oder nahe Angehörige betroffen zu sehen. Im DSM-IV genügte es, „indirekt“ betroffen zu sein, wobei der Fokus jetzt mehr auf subjektivem Erleben lag als auf objektiven Ereignissen. Und traumatische Ereignisse umfassten von nun an auch dem Entwicklungsstand unangemessene sexuelle Erfahrungen. Im DSM-5 erschienen erstmals u. a. die „milde neurokognitive Störung“ und die Autismus-Spektrum-Störung. Expert*innen gebrauchen die psychologischen Begriffe also genauso wie Lai*innen mit zunehmend weiter gesteckten Bedeutungen. Man kann dem breiten Publikum vorwerfen, es würde die Begriffe missverstehen und so zu einer Ausweitung ihrer Bedeutung beitragen. Dass die Psychologin Lucy Foulkes von einer „Überinterpretation“ durch die Öffentlichkeit spricht, deutet darauf hin, dass diese etwas an den psychopathologischen Kategorien falsch versteht. Doch was treibt die Ausweitung aufseiten der professionellen Helfer*innen und Forscher*innen an? Manche Kritiker*innen unterstellen ihnen nicht nur wissenschaftliche, sondern auch wirtschaftliche Motive. Je mehr Verhaltensweisen und psychische Phänomene zu ihrem Aufgabengebiet zählen, desto größer werden ihr gesellschaftlicher Einfluss und die Nachfrage nach psychologischen/-therapeutischen Dienstleistungen (vgl. Cosgrove & Whitaker, 2015; Epstein et al., 2013; Levold, 2021). Doch möglicherweise gibt es einen entscheidenderen Faktor, der die Ausweitung vorantreibt. Was geschieht, wenn zwei Gruppen miteinander agieren, die beide ständig die Bedeutung der Begriffe verschieben, mit denen sie miteinander sprechen? Sie werden dann mit den Worten des Psychiatriehistorikers Edward Shorter (1993, S. x) zu den „Hauptdarsteller*innen in einem Psychodrama“, das dem Looping erst seine eigentliche Dynamik verleiht. Mit dem Begriff concept creep bezeichnete Ian Hacking die schleichende Veränderung und Ausweitung psychopathologischer Kategorien. 1/2025 Psychotherapeutenjournal 7 T. Padberg
Looping III: Kommunikation zwischen Betroffenen und Behandelnden6 „Die Vorstellungen der Ärzte waren anders, weil die Patienten anders waren; die Patienten jedoch waren anders, weil die Erwartungen der Ärzte anders waren. […] Menschen, die auf bestimmte Weise klassifiziert werden, neigen dazu, sich daran anzupassen oder in diese Beschreibungsweisen hineinzuwachsen; aber sie gestalten diese auch um, so dass die Klassifikationen und Beschreibungen ständig neu geschrieben werden müssen.“ Ian Hacking, Rewriting the Soul (1995b, S. 21) So funktioniert der Looping: Leidende Menschen stellen sich bei einem*einer Ärzt*in vor, der ihre Symptome als, sagen wir, „die klinische Kategorie X“ bezeichnet. Man hat eben nicht einfach eine „schlechte Phase“, all die Symptome, die Belastung und die Schwere, die man zuvor gespürt hat: Sie sind Zeichen einer bereits bekannten Krankheit! Der*die Betroffene verwirft jetzt alternative Ideen zur Ursache des Problems und geht zu einem*einer Spezialist*in, der die Symptome ebenfalls als Kategorie X bezeichnet. Im Anschluss erhält er*sie eine hochspezialisierte Behandlung: Psychotherapie, Psychopharmaka oder beides. Oder der*die Betroffene googelt und findet dabei zahlreiche Berichte über die Kategorie X: Er*sie ist nicht allein, zugleich lernt er*sie weitere Beschwerden kennen, die zur Kategorie X gehören. Hatte er*sie nicht schon früher ähnlich schlechte Phasen? War das nicht schon damals ein erstes Anzeichen seines X? Je häufiger dies stattfindet, desto mehr Menschen sind mit der Kategorie X vertraut. Es braucht keine Ärzt*innen mehr, die zuerst von X sprechen. Das Konzept ist in aller Munde. Die Menschen kommen jetzt in die ärztlichen Praxen und erklären von sich aus, dass sie X haben. Die Ärzt*innen interpretieren dies wiederum als Hinweis darauf, dass X eine weit verbreitete Krankheit ist. Kategorie X wird auf diese Weise zu einem immer festeren Bestandteil unseres Gefühlshaushalts. Viele haben X (oder Teile davon) schon an sich selbst bemerkt, jede*r kann mitreden. In diesem Austausch werden die menschlichen Arten der Psychopathologie zwischen den Betroffenen und den Behandelnden hin- und hergespielt, bis sie allgemein bekannt und auch von fast jedermann erkennbar sind. Während die Details den Fachleuten vorbehalten bleiben, wird die allgemeine Struktur der Störung — Symptome, die Erklärungsmuster und Behandlungsansätze — zu einem Teil des Alltagswissens (Hacking, 1995, S. 358). Wir nennen dies heutzutage Mental Health Awareness. Weil sie interaktive Arten sind, werden die psychopathologischen Kategorien von den Betroffenen verarbeitet und umgearbeitet. Man befragt sich selbst auf bestimmte Symptome und nimmt diese ggf. deutlicher wahr. Wer von depressiven Symptomen gelesen hat und diese an sich bemerkt, wird eventuell pessimistischer in die Zukunft schauen und gerade deshalb depressiver sein (Looping I). Oder man wehrt sich gegen bestimmte Aspekte der Kategorie. Wer auf eine bestimmte Weise beschrieben wurde, wird diese Kategorisierung vielleicht irgendwann in Frage stellen. So gelten die Kategorien ADHS und ASS (Autismus-Spektrum-Störung) für einige nicht länger als Störungen oder gar Krankheiten, sondern unter der Überschrift „Neurodiversität“ als durchaus zu begrüßende Variationen (Patent, 2023).7 Wenn auf diese Weise alle mitreden, dann entstehen dabei neue Ideen, von denen einige irgendwann aufgegriffen und Teil der Klassifikation werden (Looping II). So verschiebt sich Stück für Stück der gerade gängige „Symptompool“ (Shorter, 1993, S. 5 ff.). Dies ist der eigentliche Looping-Effekt, den der Philosoph Ian Hacking in seinem Buch Menschenarten beschreibt: Psychiatrische Kategorien verändern sich, eben weil sie verwendet werden. Und damit auch diejenigen, die unter die Kategorie fallen. So werden Menschen in der Kategorie ADHS durch das veränderte Verständnis als neurodiverses Talent weniger Scham empfinden und zugleich weniger veränderungsmotiviert sein. (Letzteres, wie der Kinder- und Jugendpsychiater Sami Timimi (2025) festhält, häufig zum Bedauern ihrer Eltern.) In meiner Sprechstunde saß zum Beispiel unlängst eine nervös wirkende junge Frau, die wegen ihrer Lernschwierigkeiten bei mir vorstellig wurde. Sie habe sich bereits informiert, die Diagnose laute ADHS, das wolle sie sich demnächst bei einer darauf spezialisierten Beratungsstelle bestätigen lassen. Leider sei der Termin erst in ein paar Monaten, da die Beratungsstellen wegen der großen Nachfrage überlastet seien. Unterstützung brauche sie aber auch jetzt schon, nicht zuletzt wegen ihrer Beziehungsschwierigkeiten, ebenfalls ein Symptom ihrer ADHS. Wenn ihr Freund nicht vor Ort sei, fühle sie sich verlassen und panisch. Wie bei so vielen anderen Mitbetroffenen könne ihr Gehirn keine Objektpermanenz erzeugen. Sie lebe also ohne verlässliche Repräsentation des ihr wichtigsten Menschen auf der ganzen Welt, ihres Partners. Dies sei die eigentliche Ursache für ihr übertriebenes Einsamkeitsgefühl, die Eifersucht und die daraus resultierenden Beziehungsdramen, wie ich ihr sicherlich bestätigen könne. Mangelnde Objektpermanenz sei ja bekanntlich ein Teil von ADHS. 6 An den Loopings sind auch die Forscher*innen durch ihre Interaktionen mit Behandelnden und Betroffenen beteiligt. Der Übersicht und der Kürze halber wurde ihr Beitrag hier ausgeklammert. 7 Als ich einmal öffentlich dafür eintrat, „weitverbreitete psychische Probleme“ nicht automatisch als ADHS zu bezeichnen, wurde ich sofort von zwei Seiten attackiert. Ein auf das Thema spezialisierter Psychotherapeut hinterfragte, woher ich die irregeleitete Idee nähme, ADHS sei eine „psychische“ Störung, selbstverständlich sei ADHS eine Krankheit, nämlich eine Entwicklungsstörung des Gehirns. Zugleich empörte sich eine Betroffene (über mich, nicht über den ADHS-Spezialisten), ADHS sei überhaupt keine Störung, sondern ein besonderes Talent. Tatsächlich hatte ich den Begriff Störung überhaupt nicht benutzt, sondern eben von „psychischen Problemen“ gesprochen. 8 Psychotherapeutenjournal 1/2025 Die Macht der Diagnosen
Tatsächlich hörte ich von mangelnder Objektpermanenz bei ADHS erstmalig von dieser Klientin — und kurz darauf erneut bei meinen Recherchen für diesen Text. Objektpermanenz ist ein Entwicklungsstadium nach Jean Piaget und kein Teil der offiziellen Kriterien von ADHS. Trotzdem ist sie inzwischen fester Bestandteil des Diskurses über ADHS auf sozialen Medien. Weil diese sich abzeichnende horizontale Ausweitung (mangelnde Objektpermanenz wird als etwas Neues zur Kategorie ADHS hinzugefügt) erst vor Kurzem begonnen hat, kann man sie gut nachzeichnen. Die Idee, mangelnde Objektpermanenz sei ein Teil von ADHS, wurde durch einen Influencer ohne psychotherapeutische oder medizinische Ausbildung populär gemacht. Wie konnte er so einflussreich werden, dass viele Menschen heute davon ausgehen, mit ihrer Objektpermanenz sei etwas nicht in Ordnung? Was qualifiziert ihn? Seine Reichweite verdankt er seiner eigenen ADHS-Diagnose — und seinen vielen Anhänger*innen auf TikTok. @peterhyphen berichtet in einem Beitrag seinen Anhänger*innen von „ADHS-Symptome[n], von denen ich gern früher erfahren hätte: Objektpermanenz“. Im Video erläutert Hyphen, wie Kleinkinder erst langsam lernen, dass Objekte noch existieren, auch wenn sie nicht länger sichtbar sind. Er behauptet, dass Teenager und Erwachsene mit ADHS dies noch immer nicht könnten. Deswegen vergesse man, sich um Dinge zu kümmern, die nicht ständig präsent seien und empfinde keine Sicherheit in Beziehungen, wenn der Partner nicht anwesend sei. Das Video, gerade mal eine Minute lang, geht viral. Es wird bis ins Jahr 2022 über 1,2 Millionen Mal gelikt, x-fach geteilt und viele Millionen Mal angesehen. Doch Hyphens Einfluss reicht noch weiter. Mit Veröffentlichung des Videos wird ‚ADHS und Objektpermanenz’ eine viel gesuchte Wortpaarung auf Google. Die Diskussion verbreitet sich auf Plattformen wie Reddit,8 wodurch sie weitere Aufmerksamkeit erhält. Ein erstes Online-Fachmagazin Medical News Today berichtet darüber. Die Online-TherapiePlattform BetterHelp informiert jetzt über ADHS und Objektpermanenz auf ihren Informationsseiten (Chevalier, 2024, S. 167). Man muss nicht zynisch sein, um schon bald die ersten fMRT-Untersuchungen zu erwarten, die diesen Zusammenhang im Gehirn nachweisen. So entsteht aus dem Gebrauch der interaktiven Art „ADHS“ eine Dynamik, der sich immer weniger der Beteiligten entziehen können, hier beginnend bei den Betroffenen über die Behandelnden bis hin zu Fachmagazinen und Fachgesellschaften. Und natürlich habe auch ich meiner Klientin im Rahmen der Sprechstunde eine ADHS-Verdachtsdiagnose mit Beziehungsschwierigkeiten attestiert. Wie sonst hätte ich die Inhalte unseres Gesprächs so auf den Begriff bringen können, dass ein*e weiterbehandelnde* Kolleg*in sie sofort einordnen kann? Der Looping-Effekt der Menschenarten. Eine Beschreibung und Kritik der psychologischen Diagnostik Es ist erstaunlich! Ich glaube, das DSM definiert die Dinge. Ich glaube, es bestimmt darüber, was Wirklichkeit wird. DSM-III Hauptautor Robert Spitzer rückblickend über sein Werk9 Auf die Looping-Effekte hinzuweisen, denen psychopathologische Kategorien unterliegen, ist noch nicht gleichbedeutend mit Kritik. Hacking beschreibt lediglich, wie es sich mit unseren psychologischen Begriffen verhält. Dies nennen wir „ADHS“, das „ASS“, ein Drittes „Depression“. Jenes sind die Symptome, die sie ausmachen. Manches ändert sich, manches bleibt gleich. Und dass die Dinge sich über die Zeit verändern, ist auch selbstverständlich. Dennoch enthalten Hackings Schriften eine Mahnung: Die Worte, mit denen wir unsere Leiden beschreiben, prägen unser Selbstverständnis. Was bedeutet es für Menschen, wenn sie hören, dass sie eine psychische Krankheit haben? Wenn sie hören, psychische Störungen seien biologisch (mit-)verursacht und damit schwer veränderbar, einige seien lebensbedrohlich? Wie sehr neigen Menschen dann dazu, Symptome an sich zu erkennen und schwerzunehmen, mit denen sie zuvor einfach gelebt hätten? Ist dieses Bewusstsein immer ein erster Schritt zur Heilung? Oder wird ein gängiges Lebensproblem manchmal erst dadurch zu einer Katastrophe? Epidemiologen gehen von einer „erhöhten Bereitschaft, (Lebens-)Probleme, in psychologischen Termini zu konzeptualisieren und zu kommunizieren“, aus (Handerer et al., 2018, S. 196). Psychische Kategorien formen die Wahrnehmung und legen bestimmte Verhaltensweisen nahe. Der Werther-Effekt ist seit Langem bekannt, er beschreibt die große Gefahr von Nachahmungseffekten, wenn von Suiziden die Rede ist. Sogar die Deutsche Depressionshilfe, die Depressionen für wesentlich biologisch bedingt hält, veröffentlicht Handreichungen für die Presse, damit die Berichterstattung nicht zu weiteren Suiziden führt. Ein Beispiel für die Macht sozialer Ansteckung ist der geschilderte Ausbruch von ‚tourette’-ähnlichen Symptomen an der High-School in Le Roy, New York 8 Reddit ist eine Plattform, auf der Nutzer*innen Beiträge teilen und diskutieren können. Es kombiniert soziale Netzwerke und Nachrichten. 9 Zit. n. Shorter (2013), S. 145. Psychiatrische Kategorien verändern sich, eben weil sie verwendet werden. Und damit auch diejenigen, die unter die Kategorie fallen. 1/2025 Psychotherapeutenjournal 9 T. Padberg
und zehn Jahre später auf dem weltweiten Schulhof TikTok. Hacking macht in seinem 1995er-Buch „Rewriting the Soul“ die Multiple Persönlichkeitsstörung zum Thema. Looping-Effekte sind ein guter Erklärungsansatz dafür, wie ein so schweres und auffälliges Störungsbild in Wellen auftreten und dann fast vollständig über Jahrzehnte wieder verschwinden kann. (Als Unterform der Dissoziativen Störungen dreht die Multiple Persönlichkeitsstörung jüngst wieder eine Runde.) Solche Phänomene verdeutlichen, wie soziale Dynamiken psychische Störungen prägen. In Vorwegnahme der Gedanken Hackings hatte der Sozialpsychologe Kenneth Gergen schon 1973 geschrieben: „Die Verbreitung psychologischen Wissens verändert die Verhaltensmuster, auf denen dieses Wissen basiert.“ Er baute diesen Gedanken später zu einer Kritik der Psychopathologie aus. Hackings Looping wird bei Gergen (1994) zu einem „Zirkel zunehmender Zerbrechlichkeit“ (cycle of progressive infirmity). Diese frühen theoretischen Arbeiten finden jüngst empirische Unterstützung. Kinder mit einer ADHS-Diagnose berichten deutlich häufiger von einer geringeren Lebenszufriedenheit als Gleichaltrige, mit den gleichen Symptomen, die jedoch nicht diagnostiziert und behandelt wurden. Zugleich neigen die Kinder mit Diagnose vermehrt zu Selbstverletzungen (Kazda et al., 2022). Und junge Männer, die eine Diagnose für ihre psychischen Beschwerden erhalten, führen später ein insgesamt ärmeres und schlechteres Leben als solche, die trotz vergleichbarer Beschwerden keine Diagnose erhalten. Das gilt vor allem für diejenigen, deren Beschwerden bei der Diagnosestellung eher leicht waren, so das Ergebnis einer Studie mit Rekruten des schwedischen Militärs (Bos et al., 2023). Bedenklich auch die Ergebnisse der Better-AccessInitiative in Australien, die für unkomplizierten Zugang zu Psychotherapien sorgte. Nur jede*r Zehnte, der wegen leichterer Beschwerden schnelle Hilfe erhielt, profitierte, ein Drittel verschlechterte sich (Allison, 2023). In einer Kohorten-Studie verbesserten sich psychisch auffällige Jugendliche umso mehr, je weniger Psychotherapie sie erhielten (Jörg et al., 2012). Trotz vermehrter Behandlungen von Depressionen sinkt ihre Häufigkeit in der Bevölkerung nicht (Ormel et al., 2022), was inzwischen mit dem Begriff „Behandlungsparadox“ bezeichnet wird (vgl. Padberg, 2021). Ich könnte so noch eine Weile fortfahren (vgl. z. B. Goldney et al., 2010; Jorm et al., 2017). Gergen weist darauf hin, dass die unkritische, endlos geloopte Verbreitung von Störungswissen, zu einer paradoxen Nebenwirkungen führen kann (vgl. a. Speerfork & Schomerus, 2024): einer steigenden emotionalen Zerbrechlichkeit in der Gesellschaft. „Immer mehr awareness funktioniert einfach nicht. Wir brauchen Alternativen“, sagt auch Professor Haslam. Wie sehen diese Alternativen aus? Konstruktive Konstruktionen Die Zerlegung des wahrgenommenen Universums in Teile und Ganze ist angemessen und kann notwendig sein, keine Notwendigkeit bestimmt aber, wie das geschehen sollte. Gregory Bateson, Geist und Natur (1993, S. 51) Es reicht nicht, über psychische Probleme zu reden. Wir müssen es richtig tun und dabei Wege zur Bewältigung aufzeigen. Wir sprechen heute zwar viel offener über unsere psychischen Schwierigkeiten als früher, manche Menschen bekommen schnellere und bessere Hilfe. Die Betroffenen schämen sich weniger und werden für ihre Probleme seltener verantwortlich gemacht. Das hat aber auch zu zahllosen Erklär-Videos geführt, in denen junge Leute psychische Symptome an ihren Fingern abzählen, um sich dann kollektiv eine Diagnose zu stellen. Weil das Problem aus ihrer Sicht damit ausreichend benannt wurde („es ist ASS/PTBS/eine Angststörung/Depression“), endet hier oft die Beschäftigung mit sich selbst und es setzt das Warten auf eine Psychotherapie ein. Das Denken kommt zur Ruhe, wenn es auf den Begriff gekommen ist. Das verstellt oft die Bereitschaft dafür, das Leid jenseits einer griffigen Überschrift in der Form eines Krankheitsbegriffs (am besten als Akronym, so wie ASS oder ADHS) besser zu verstehen. So beklagte die Neurologin Jennifer McVige, die den Jugendlichen in Le Roy als erste jene Konversionsstörungen diagnostizierte, dass erst nach Ende des Medienrummels, der sich um den Ausbruch der Tic-Störungen entwickelt hatte, und mit Abklingen der Symptome alternative Erklärungsansätze besprechbar wurden: „Zu diesem Zeitpunkt, als all dies ‚vorbei’ war, kamen eine Menge Dinge ans Licht, die mir damals nicht erzählt wurden. Über Probleme, die [die Mädchen] in ihrem Leben hatten, als hätten sie jetzt die innere Erlaubnis, mir dies mitzuteilen, so nach dem Motto: ‚Ach ja, ich hab’ damals sehr mit meiner sexuellen Identität gehadert’ oder, ‚Übrigens, da gab es diesen Konflikt in meiner Familie’. Und ich dachte nur, wow, es hätte mir sehr geholfen, das damals zu wissen, als die Wellen so hochschlugen.“ Offenbar werden die Medien — von den sozialen bis zu den Qualitätsmedien — nicht müde, über Krankheitssymptome aufzuklären. Die Beschreibung von Problemen anhand von Symptomlisten ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit — und, wie gezeigt, nicht unbedingt die beste. Systemische Therapeut*innen haben darauf hingewiesen, dass man „nicht nicht diagnostizieren kann“ (Wiesner & Willutzki, 1992, S. 346 ff.), man aber sehr wohl darauf achten sollte, dass die Es reicht nicht, über psychische Probleme zu reden. Wir müssen es richtig tun und dabei Wege zur Bewältigung aufzeigen. 10 Psychotherapeutenjournal 1/2025 Die Macht der Diagnosen
Problembeschreibung einer therapeutischen Lösung nicht im Wege steht. Entsprechend bietet die Vermittlung dynamischer Erklärungsansätze, die direkt auf Veränderung abzielen, einen konstruktiven Ausweg. Dies hilft sowohl Betroffenen wie Behandelnden, Leid so zu verstehen, dass Handlungsmöglichkeiten eröffnet werden. Statt nur Symptome sozialer Angst aufzulisten, könnte man typische Gedankenfehler, wie „Gedankenlesen“ und „emotionale Beweisführung“, vermitteln. Oder erklären, wie Stress sich in Tics äußern kann. Dies sind gleichfalls gute Beschreibungen der Symptomatik, aber mit einer eingebauten Lösung (Padberg & Veith, 2024): der Bearbeitung der beschriebenen Gedankenmuster und der Linderung von Stress. Sie sind dynamisch auf Veränderung angelegt. Die Formulierung eines Selbst- und Problemverständnisses mittels solcher psychologischer Begriffe (seien diese kognitiv, verhaltensnah, systemisch, humanistisch oder z. B. psychodynamisch) könnte also einen konstruktiven Ausweg darstellen (Fliegel et al., 2024). Informationen über die hier dargestellten Looping-Effekte sind ebenfalls hilfreich, regen sie doch zu einem bedachteren Einsatz der bei der Schilderung von Problemen genutzten Sprache an. Wir wissen bereits einiges über die Art und Weise, wie Menschen Informationen über sich und die Welt verarbeiten. Dem Barnum-Effekt zufolge neigen wir dazu, uns in allgemeinen Beschreibungen wiederzufinden, so wie etwa in breit gefassten Krankheitskategorien. Der Andorra-Effekt bezeichnet die Tendenz, sich gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen, etwa einer Krankenrolle. Der Pygmalion-Effekt beschreibt, wie sich solche Erwartungen wie eine selbsterfüllende Prophezeiung auf menschliche Leistung und Entwicklung auswirken. Wir wissen dies alles schon. Wir sollten mehr auf diese Weise Psychologie betreiben. Thorsten Padberg Baumschulenstraße 73 12163 Berlin torsten_padberg@web.de Dipl.-Psych. Thorsten Padberg ist Psychologischer Psychotherapeut und Magister der Philosophie. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Fach- und populärwissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht. Literatur Hinweis: Wir veröffentlichen an dieser Stelle nur eine Auswahl – das vollständige Literaturverzeichnis für diesen Artikel finden Sie auf unserer Homepage unter www.psychotherapeutenjournal.de. Chevalier, O. (2024). „It starts on TikTok“: Looping Effects and The Impact of Social Media on Psychiatric Terms. Philosophy, Psychiatry, & Psychology, 31 (2). S. 163–174. Gergen, K. (1994). Realities and Relationships. Cambridge: Harvard University Press. Hacking, I. (2012). Menschenarten. The Looping Effect of Human Kinds. Leipzig: sphères. Haslam, N. (2016). Concept creep: Psychology’s expanding concepts of harm and pathology. Psychological Inquiry, 27 (1), 1–17. Padberg, T. (2021). Die Depressions-Falle. Wie wir Menschen für krank erklären, statt ihnen zu helfen. Frankfurt a. M.: Fischer-Verlage. Padberg, T. & Veith, A. (2024). Problemanalysen. In S. Fliegel, W. Jänicke, S. Münstermann, G. Ruggaber, A. Veith & U. Willutzki (Hrsg.), Verhaltenstherapie – Was sie kann und wie es geht. Ein Lehrbuch (S. 227–250). Tübingen: dgvt-Verlag. Shorter, E. (1993). From paralysis to fatigue. A history of psychosomatic illness in the modern era. New York: THE FREE PRESS. Wiesner, M. & Willutzki, U. (1992). Sozial-konstruktivistische Wege in der Psychotherapie. In S. J. Schmidt (Hrsg.), Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2 (S. 337–379). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1/2025 Psychotherapeutenjournal 11 T. Padberg
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