PTJ_2_2024_online

■■Rechtsextremismus und Radikalisierung als Herausforderungen für ein breitgefächertes Berufsbild ■■Wie gelingt die Umsetzung der neuen Psychotherapie-Studiengänge? ■■Audioaufzeichnungen – ein Mittel zur Optimierung von Psychotherapie? ■■Übersichtsartikel zur ICD-11: Veränderungen und Trends –Teil II ■■Die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter ■■Ein Interviewprojekt zum Erleben der psychotherapeutischen Ausbildung Psychotherapeuten journal www.psychotherapeutenjournal.de | ISSN 1611-0773 | D 60843 | 23. Jahrgang | 17. Juni 2024 PTJ 2/2024 (S. 117–228)

Geschlechtersensible Sprache Das Psychotherapeutenjournal empfiehlt im Sinne eines geschlechtersensiblen Sprachgebrauchs für die Bezeichnung von Personen oder Gruppen, die nicht eindeutig männlich oder weiblich sind, die Verwendung des sog. Gendersternchens (z. B. „Psychotherapeut*innen“, „ein*e Psychotherapeut*in“), sofern es keine sprachlich etablierte geschlechtsneutrale Formulierung gibt. Alternativ besteht die Möglichkeit, texteinheitlich die Paarschreibweise mit männlicher und weiblicher Form (z. B. „Psychotherapeutinnen und -therapeuten“, „eine Psychotherapeutin oder ein Psychotherapeut“) heranzuziehen. Bitte beachten Sie, dass auch in diesem Fall Personen mit non-binärer Geschlechtsidentität immer ausdrücklich mitgemeint und angesprochen sind. Zur Begründung dieser Sprachregelung lesen Sie bitte das Editorial in Ausgabe 4/2021.

Liebe Kolleg*innen, Editorial der 44. Deutsche Psychotherapeutentag bekennt sich „zu demokratischen Werten und Vielfalt sowie Freiheit und Toleranz als zentrale[n] Werte[n] unseres Berufsstands“. „Menschlichkeit und Respekt kennzeichnen unser professionelles Selbstverständnis. Hass, Gewalt und Hetze sowie Intoleranz, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und die Ablehnung demokratischer Werte stellen eine konkrete Gefahr für Menschen in unserer Gesellschaft dar, gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt und können die psychische Gesundheit stark belasten“, so führt die Resolution weiter aus. Dass eine solche Resolution nicht bloßes Lippenbekenntnis ist, erleben wir in unserer täglichen Arbeit. Psychotherapeut*innen leisten dabei einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt. Dieser Tatsache und der damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Bedeutung dürfen wir uns als Berufsstand bewusst sein und entsprechend selbstbewusst den Verantwortlichen und Entscheidungsträger*innen gegenüber vertreten, dass unsere Profession weitaus mehr mit sich bringt als die Kompetenz eines auf eine bestimmte Gruppe von Erkrankungen spezialisierten Heilberufes. Aus einem solchen Selbstverständnis erwachsen Implikationen zuletzt auch für eine ausreichende Absicherung der Weiterbildung zukünftiger Psychotherapeut*innen. Sich einerseits über die eigenen Werte und Bedürfnisse klarzuwerden und andererseits auszuhalten, dass diese im Inneren wie im Außen nicht immer kongruent zueinander sind, stellen wichtige Momente im psychotherapeutischen Arbeiten dar. Psychotherapie hilft Menschen dabei, in einen kommunikativen Austausch darüber zu kommen, ob und wie gemeinsam die Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse ermöglicht werden kann. So kann Psychotherapie ausgehend von der einzelnen Person demokratisches Verständnis und Pluralität fördern. Kerstin Sischka et al. betonen entsprechend die Notwendigkeit, dass in unserer Gesellschaft „Formen einer konstruktiven Konfliktaustragung” gefunden werden müssen, um einer wachsenden Polarisierung entgegentreten zu können. Auch innerhalb unserer Profession handeln wir in intensiven Prozessen unsere Positionen aus. Dabei können die Perspektiven und die Rückmeldungen der anderen wertvolle Hilfe sein, um sich selbst und die eigene Position weiterzuentwickeln. In diesem Sinne regen Ulrich Lamparter et al. im Kontext von bisheriger Psychotherapieausbildung und zukünftiger Weiterbildung einen Blick über den Tellerrand des eigenen Psychotherapieverfahrens an: Im Rahmen eines Interviewprojekts befragten sich Ausbildungsteilnehmer*innen aus einem psychodynamischen und einem verhaltenstherapeutischen Institut wechselseitig zu den jeweiligen Erfahrungen. So konnten zwei Institute Wichtiges über sich und voneinander lernen. Cornelia Exner beantwortet im Namen der Kommission Psychologie und Psychotherapieausbildung von Fakultätentag und DGPs häufig aufgekommene Fragen zum Stand der Einführung und Umsetzung der Psychotherapiestudiengänge. Die aufgeführten Fragen und Antworten verweisen dabei auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der an diesem Prozess Beteiligten, machen zugleich aber klar, dass unser Berufsstand die Reform von Aus- und Weiterbildung nur gemeinsam umsetzen kann und dazu die verschiedenen Positionen innerhalb und außerhalb der Profession im Blick zu behalten sind. Häufig hindert uns Komplexität daran, Situationen ausreichend schnell aufzufassen und Relevantes zu behalten. So kann es einem mitunter auch in Therapiesitzungen gehen. Werner van Haren berichtet in diesem Zusammenhang aus der Praxis, welche Vorzüge und Herausforderungen die Audioaufzeichnung von Therapieeinheiten durch Patient*innen mit sich bringen kann. Mit einer anderen Art von Komplexität setzen sich Nina Haible-Baer und Peter Kirsch auseinander. Sie geben Hilfestellung zur Diagnostik von ADHS im Erwachsenenalter und weisen auf die zum Teil komplexen differentialdiagnostischen Aspekte hin. Gleichzeitig verdeutlichen sie, wie eine solche Diagnostik einfach umzusetzen ist. In unserer ICD-11-Serie setzt Alex Hartig seinen Beitrag aus der letzten Ausgabe fort. Der zweite Teil beschäftigt sich mit den Veränderungen bei bereits in der bisherigen Version aufgeführten Diagnosen. Die Gruppierung der Persönlichkeitsstörungen wird dabei besonders berücksichtigt. Die Autor*innen dieser Ausgabe laden uns zu einer Reise durch die beschriebene Themenvielfalt ein. Mögen Sie ruhige Momente an schönen Plätzen finden, um sich der spannenden Lektüre zu widmen. Christoph Sülz (Bremen) Mitglied des Redaktionsbeirates 2/2024 Psychotherapeutenjournal 117

Inhalt Originalia Inhalt Kerstin Sischka, Heiner Vogel & Christoph Bialluch Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit – Teil II. Herausforderungen für ein breitgefächertes Berufsbild Der Beitrag knüpft an den Artikel desselben Autor*innenteams in Ausgabe 4/2023 des Psychotherapeutenjournals an. Im vorliegenden Text sollen vertiefend die Folgen der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung durch rechtsextremistische Bewegungen für unser Gemeinwesen skizziert und vor diesem Hintergrund mögliche Handlungsfelder für Psychotherapeut*innen als Teil eines präventiven Kooperationsnetzwerkes diskutiert werden. Cornelia Exner Wie gelingt die Umsetzung der neuen Studiengänge zur Approbation in Psychotherapie? Antworten auf häufig gestellte Fragen Die Kommission Psychologie und Psychotherapieausbildung von Fakultätentag und Deutscher Gesellschaft für Psychologie beantwortet häufig gestellte Fragen zum Stand der Einführung und Umsetzung neuer Studiengänge zur Approbation in Psychotherapie. Werner van Haren Audioaufzeichnungen – eine einfache Möglichkeit zur Optimierung von Psychotherapie Mittlerweile stehen mit jedem modernen Smartphone hochwertige Audioaufzeichnungsprogramme zur Verfügung. Sie ermöglichen es, ohne besonderen Aufwand Therapiestunden mitzuschneiden, und eröffnen dadurch leicht zugängliche neue Möglichkeiten zur Optimierung von Psychotherapie. Dargestellt werden die Vorteile, aber auch Risken dieser Technik auf Basis einer Umfrage unter Patient*innen, die die Audioaufzeichnung ihrer Therapiestunden bereits für sich nutzen. Alex Hartig ICD-11: Veränderungen und Trends. Eine Übersicht – Teil II Der Umstellungsprozess von der ICD-10 auf die ICD-11 wird zwar noch Jahre in Anspruch nehmen, die ICD-11 hat jedoch schon jetzt Relevanz für den klinischen Alltag. Der zweite Teil der Artikelserie beschäftigt sich mit den Veränderungen bei bereits bestehenden Diagnosen. Die Gruppierung der Persönlichkeitsstörungen wird dabei besonders berücksichtigt. Ulrich Lamparter, Charlotte Schmidt-Diemel, Teresa Thöring & Gerhard Zarbock „Kenne Deine Nächste wie Dich selbst“. Ein Interviewprojekt zum Erleben der psychotherapeutischen Ausbildung in einem psychodynamischen und einem verhaltenstherapeutischen Institut 50 Ausbildungsteilnehmer*innen eines verhaltenstherapeutischen und eines psychodynamischen Instituts interviewten sich im Interviewprojekt „Kenne Deine Nächste wie Dich selbst“ gegenseitig zu ihren Erfahrungen in der Ausbildung. Es zeigen sich eine hohe generelle Zufriedenheit mit der Ausbildung sowie mit der Wahl des Verfahrens, aber auch erhebliche zeitliche und finanzielle Belastungen und Unterschiede in der Institutskultur. 120 128 135 141 150 Serie 118 Psychotherapeutenjournal 2/2024

Bundespsychothera- peutenkammer Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg 199 Hessen 203 Niedersachsen 207 Nordrhein-Westfalen 211 Ostdeutsche Psychotherapeutenkammer 214 Rheinland-Pfalz 218 Saarland 223 Schleswig-Holstein Rezensionen 159 167 168 Mitteilungen der Psychotherapeutenkammern Editorial Impressum Psychotherapeutenjournal Stellen- und Praxismarkt des medhochzwei Verlages Impressum Stellen- und Praxismarkt des medhochzwei Verlages 169 177 182 187 191 195 117 228 A1 A16 Nina Haible-Baer & Peter Kirsch Die Diagnose der ADHS im Erwachsenenalter – Eine Aufgabe für Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten? Mit diesem Artikel sollen bei vielen Psychotherapeutinnen und -therapeuten bestehende Unsicherheiten bei der Diagnostik der ADHS im Erwachsenenalter adressiert und abgebaut werden. Dabei soll das Störungsbild mit seinen erwachsenentypischen Problemen und in seinen differentialdiagnostischen Abgrenzungen dargelegt werden. Zusätzlich wird auf die Schwierigkeiten bei der retrospektiven Erfassung der kindlichen Symptome und auf die verschiedenen Schritte und Hilfsmittel im diagnostischen Prozess eingegangen. Traumatherapie ist mehr als nur Technik Eine Rezension von Ingo Jungclaussen: Barwinski, R. (2023). Trauma und Gegenübertragung. Den Stand der Traumaverarbeitung erkennen und Behandlungsschritte planen. Sprechen die Zahlen wirklich für sich? Eine Rezension von Thorsten Padberg: Fischer, T. (2022). Linke Daten, rechte Daten. Warum wir nur das sehen, was wir sehen wollen. Hinweise: Diese Ausgabe können Sie auch als PDF-Dokument von der Internetseite www.psychotherapeutenjournal.de herunterladen. 2/2024 Psychotherapeutenjournal 119

Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit –Teil II Herausforderungen für ein breitgefächertes Berufsbild Kerstin Sischka, Heiner Vogel & Christoph Bialluch Zusammenfassung: Der Beitrag knüpft an den Artikel desselben Autor*innenteams in Ausgabe 4/2023 des Psychotherapeutenjournals an. Im vorliegenden Text sollen die Folgen der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung durch rechtsextremistische Bewegungen für unser Gemeinwesen skizziert und vor diesem Hintergrund vertiefend mögliche Handlungsfelder für Psychotherapeut*innen als Teil eines präventiven Kooperationsnetzwerkes diskutiert werden. Auf Basis des Konzepts eines breitgefächerten Berufsbilds sollen hier Möglichkeiten psychotherapeutischer Beratung und Unterstützung im Phänomenkomplex von Rechtsextremismus und (De-)Radikalisierung vorgestellt werden. Anhand ausgewählter gesellschaftlicher Konfliktkonstellationen sollen in diesem Zusammenhang zudem Mitwirkungsmöglichkeiten von Psychotherapeut*innen als Teil einer multiprofessionellen Zusammenarbeit näher aufgezeigt werden. Abschließend soll vertieft werden, welchen Beitrag Berufsangehörige in der Prävention politisch motivierter Gewalt, im Bedrohungsmanagement und im Rahmen der Ausstiegshilfe im Strafvollzug leisten können. Probleme, vor denen unsere Gesellschaft steht, zu verstehen sind, welche Auswirkungen sie haben und welche Maßnahmen zu ihrer Bewältigung notwendig sind. Bereits während der Pandemie zeigte sich eine verstärkte gesellschaftliche Polarisierung und diese wird nunmehr auch in Bezug auf den Umgang mit der Klimakrise, Flucht und Migration, die Sozial- und Wirtschaftspolitik, die Unterstützung der Ukraine bzw. den Umgang mit Russland im Bündnis europäischer Staaten deutlich. Im Kern scheint es dabei auch um die Frage zu gehen, wie tragfähig und belastbar das Zutrauen in die Handlungsfähigkeit einer tendenziell „offenen Gesellschaft“ ist oder wie stark das Gegenmodell einer „geschlossenen Gesellschaft“ zunehmend Anziehungskraft gewinnt. Dies ist auch eine sozialpsychologische Frage. Dabei ist die Position „Die Psyche braucht Demokratie“ zwar zutreffend, aber in krisenhaften Zeiten flüchten sich doch viele Menschen in antiliberale HalEinleitung Seit dem Beginn des Jahres 2024 hat sich in Deutschland eine breite gesellschaftliche Bewegung gegen Rechtsextremismus entwickelt, die in zahlreichen Städten unseres Landes hunderttausende Menschen mobilisiert. Auch viele psychotherapeutische Kolleg*innen haben sich an den Demonstrationen beteiligt, und große Berufsverbände, Kammern und Vereinigungen bezogen öffentlich Stellung für eine plurale, demokratische Kultur.1 Diese entschiedene Positionierung aus dem Gesundheitswesen heraus ist in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation ein sehr wichtiges Zeichen, und doch kann sie nur ein Anfang sein. Denn der „Lackmustest“ für die Zukunftsfähigkeit der Demokratie wird wohl darin bestehen, inwiefern es gelingt, die tiefgreifenden Herausforderungen zu meistern, vor denen unser Land in Zeiten von Krieg, Klimawandel und Wirtschaftskrisen seit geraumer Zeit steht. Dies kann nur glücken, wenn liberale wie auch konservative, linke wie auch rechte Kräfte Formen einer konstruktiven Konfliktaustragung finden und dabei Abstand zu vermeintlich einfachen Problemlösungsideen halten, wie sie von rechtsextremen Parteien und Gruppen vorgetragen werden. Der Rechtsextremismusforscher Hajo Funke hat dazu im Januar 2024 erklärt, dass die Auseinandersetzung um die Zukunft der Demokratie vor Ort nicht in den Großstädten entschieden werde, sondern in den mittelgroßen und kleineren Städten2, in denen auch rechtsextreme Positionen und Gruppierungen bereits durchaus ein Teil der Zivilgesellschaft geworden sind. Es scheint ein tiefer Dissens darüber zu existieren, wie die 1 Bereits am 17./18. November 2023 hat sich die Psychotherapeutenschaft auf dem Deutschen Psychotherapeutentag in einer Resolution geäußert: „Demokratie sichert sicheres und gesundes Aufwachsen und Leben: Gegen ein Klima der Angst und Intoleranz gezielt vorgehen!“ Am 2. Februar 2024 gab die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) eine Pressemitteilung heraus: „Diskriminierung, Hass und Hetze schaden der Psyche. Psychotherapeutenschafft positioniert sich für gesellschaftliches Klima der Offenheit, Vielfalt und Toleranz“. Am 5. Februar 2024 äußerte sich der Gesprächskreis II der Psychotherapieverbände: „Psychotherapeut*innen mahnen zu Toleranz und Wahrung der Grundrechte“. Schließlich ging im 18. März 2024 auch die Bundesärztekammer (BÄK) gemeinsam mit knapp 200 Verbänden und Organisationen des deutschen Gesundheitswesens mit ihrer Erklärung „Demokratie und Pluralismus als Fundament für ein menschliches Gesundheitswesen“ an die Öffentlichkeit. 2 https://www.fr.de/politik/afd-proteste-rechtsextremismus-spd-buendnis-land tagswahlen-sachsen-thueringen-brandenburg-zr-92812512.html [22.04.2024]. 120 Psychotherapeutenjournal 2/2024

tungen und stellen die offene Gesellschaft zur Disposition. Als Psychotherapeut*innen sind wir vor solchen Hinwendungsprozessen und Polarisierungen nicht gefeit. Denn wir arbeiten in diesem Konfliktfeld keineswegs in einem Elfenbeinturm, sondern praktizieren als freier Heilberuf mit Menschen, die – wie wir selbst – durch die gesellschaftlichen Entwicklungen berührt oder belastet werden können. Unter diesen Eindrücken sind wir stärker denn je auch herausgefordert, unser breites Berufsprofil, welches über die unmittelbare ambulante oder (teil-)stationäre Patient*innenversorgung hinausgehen kann und auch andere institutionelle Versorgungsbereiche und -settings umfasst, anzunehmen. Vor einigen Jahren hat die BPtK in einem Arbeitspapier dieses breite Berufsbild beschrieben, zu dem neben der Heilbehandlung auch Beratung, Prävention und Sachverständigentätigkeiten gehören. Psychotherapeut*innen seien nicht nur Heilkundige, sondern können ihr Wissen und ihre Kompetenzen „im öffentlichen und betrieblichen Gesundheitsdienst, in der Kinder- und Jugendhilfe und in anderen Feldern des Sozialwesens“ einbringen sowie als Berater*innen „Rat- und Hilfesuchende zu vielfältigen Themen und Fragestellungen auch im Rahmen von Coaching, Teambuilding, (betrieblicher) Prävention und Organisationsberatung“ unterstützen. Im Berufsbild wird explizit betont, dass Psychotherapeut*innen „die Einflüsse aus unterschiedlichen Lebenswelten auf die psychische Gesundheit [berücksichtigen]“, ihre Patient*innen auch unter Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen versorgen und sich an der „Erhaltung und Weiterentwicklung der soziokulturellen Lebensgrundlagen mit Hinblick auf ihre Bedeutung für die psychische Gesundheit der Menschen [beteiligen] und […] sich dabei aktiv für Schutzrechte von Menschen und gegen benachteiligende Strukturen und Prozesse ein[setzen]“ (BPtK, 2014, S. 3 ff.). All dies ist auch im Kontext der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus bedeutsam. Aufbauend auf dem ersten Teil der Mini-Serie, der in der vorletzten Ausgabe (4/2023) unter dem Titel „Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit“ (Bialluch et al., 2023) erschien, soll nun mit diesem zweiten Teil der Bogen zu unserem breitgefächerten Berufsbild geschlagen werden. Dafür wird auf diverse lebensweltliche Konfliktkonstellationen im Zusammenhang mit rechtsextremen Entwicklungen eingegangen. Möglichkeiten psychotherapeutischer Beratung und Unterstützung Kommunale Mandatsträger*innen im Fokus von Hass, Hetze und Gewalt psychotherapeutisch unterstützen Die Zahl der erfassten politisch motivierten Straftaten gegen kommunale Amts- und Mandatsträger*innen hat sich in den letzten Jahren mehr als verdreifacht. Bürgermeister*innen, Kommunalpolitiker*innen, aber auch Mitarbeiter*innen kommunaler Verwaltungen werden immer stärker zur Zielscheibe von Anfeindungen und Angriffen (Salheiser et al., 2023). Das Kommunale Monitoring zu Hass, Hetze und Gewalt gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern (KoMo), welches im Rahmen von MOTRA (Monitoring- und Transferplattform Radikalisierung) aufgebaut wurde, zeigt auf, dass es sich längst nicht mehr um Einzelfälle, sondern um ein bundesweites Problem in allen Regionen und in sämtlichen Stadt- und Gemeindegrößen handelt. Politiker*innen oder Mitarbeiter*innen in Verwaltungen und Behörden werden in ihrer Freizeit oder auf der Arbeit zur Rede gestellt oder ihnen wird Gewalt angedroht. Im Internet wird gegen sie anonym oder ganz offen gehetzt. In einzelnen Fällen kam es in der Vergangenheit auch zu tätlichen Übergriffen auf Amts- und Mandatsträger (MOTRA, 2022). Solche Anfeindungen und Angriffe stören nicht nur das gesellschaftliche Miteinander nachhaltig, sie sind zudem äußerst belastend für die betroffenen Personen und oft auch für ihre Familien und Kinder. Amts- und Mandatsträger*innen, die in den Fokus solcher Anfeindungen geraten, können oftmals ihrem Engagement und ihren Tätigkeiten nicht mehr angstfrei nachgehen. Sie vermeiden die öffentliche Sichtbarkeit oder ziehen sich nach und nach von ihrem Mandat zurück. Befunde des kommunalen Monitorings zeigen, dass viele Amtsträger*innen bereits erwägen, nicht wieder zu kandidieren. Hierin liegt eine Bedrohung der Demokratie, die in diesem Ausmaß neu ist. Im „Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ der Bundesregierung wird aus diesem Grund der Schutz der Amts- und Mandatsträger*innen auch an prominenter Stelle erwähnt: „Prävention gegen Extremismus beginnt mit einer offenen, fairen und respektvollen Diskussions- und Streitkultur“ (Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2022, S. 5). Laut Aktionsplan stehe am Anfang eine bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Haltungen und Werten. Es brauche aber auch lokale Gesprächsformate, die es ermöglichten, miteinander zu reden und im Austausch zu bleiben. Gesprächsräume, in denen kontroverse Positionen und Meinungen zusammengebracht werden, könnten die Konflikt- und Dialogfähigkeit der Bürger*innen fördern, aber auch Radikalisierungen und extremistischen Tendenzen in der politischen Meinungsäußerung entgegenwirken (Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2022). Im Jahr 2023 hat das Bundesinnenministerium eine „Allianz zum Schutz kommunaler Mandatsträger“ ins Leben gerufen, an der neben den Ländern auch kommunale Spitzenverbände, kommunalpolitisch Tätige sowie Behörden und zivilgesellschaftliche Organisationen beteiligt sind. Außerdem wurde zum Schutz von kommunalen Amts- und Mandatsträgern im Januar 2024 eine Ansprechstelle auf den Weg gebracht, die vom Deutschen Forum für Kriminalprävention getragen wird.3 Diese Ansprechstelle soll zukünftig Betroffene unterstützen 2/2024 Psychotherapeutenjournal 121 K. Sischka, H. Vogel & C. Bialluch

und als Mittlerin zwischen den Betroffenen und der Justiz, den Sicherheitsbehörden sowie der Verwaltung fungieren. Hier könnte ein relevanter Wirkungsbereich für unsere Berufsgruppe liegen, die hier auch ihre Kompetenzen in der Akutversorgung, in der Arbeit mit Gewaltbetroffenen und Psychotraumatologie einbringen kann. Es wäre wünschenswert, wenn sich auch die Psychotherapeutenschaft in ihrer Vielfalt und Breite an solchen Präventionsprogrammen beteiligen und mit der erwähnten neuen Ansprechstelle zusammenarbeiten würde. Erste Schritte in diese Richtung sind bereits unternommen worden, die noch weiter ausgebaut werden könnten. Mit Menschen, die in rechtsextrem geprägten Umfeldern leben, das Gespräch finden – Krisen und Desillusionierung als Gesprächsanlass Empirische Studien unterscheiden regelmäßig zwischen manifesten rechtsextremen und rechtsextremismusaffinen Einstellungen.4 Der Bereich jener manifest rechtsextrem eingestellten Personen wiederum lässt sich dahingehend differenzieren, wie sehr die Ideologie die Lebensweise und Alltagspraxis durchdringt. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür finden wir bei der 2023 verbotenen Vereinigung „Die Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V.“ (kurz: „Artgemeinschaft“), die auf die gesamte Lebensführung abzielte: „Eine Kameradschaft will mehr. Sie zielt auf den Lebensinhalt. Sie ergreift den ganzen Menschen. Es geht nicht alleine um die Erreichung von Nahzielen, sondern um die sinnvolle Führung eines ganzen Lebens. Der nationale Mensch ist im Denken und Fühlen, im Handeln und Verhalten durchdrungen von seinem Glauben, erfüllt von der Hingabe an eine Idee. […] Er weiß, dass die Kameradschaft als ganzes nur so viel leisten kann, wie jeder einzelne dazu beiträgt, sowohl finanziell als auch durch eigene Leistung wie durch vorbildliches Leben, durch das noch nicht der Kameradschaft angehörige Menschen angezogen werden“ (aus: „Unser Wollen“, Schrift der Artgemeinschaft). „Die Artgemeinschaft“ wurde 2023 verboten, da sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und insbesondere aufgrund antisemitischer Inhalte auch gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Zudem waren das Ausleben der rechtsextremistischen Weltanschauung und die Weitergabe ihrer Ideologien an Kinder und Jugendliche wesentliche Zwecke des Vereins. Das Beispiel der „Artgemeinschaft“ steht zugleich stellvertretend für Bestrebungen im organisierten Rechtsextremismus, die auch unter dem Begriff der „Raumaneignung“ zusammengefasst werden (Helal, 2022). So findet man in vielen Regionen seit ca. 20 Jahren eine gezielte Ansiedlung extrem rechter Aktivist*innen, wie sie ebenfalls in Rechtsexremismusfallstudien zu völkischen Siedler*innen, extrem rechten intellektuellen Zirkeln oder eher aktivistisch geprägten Gruppen beschrieben werden (Röpke & Speit, 2019). Der Aufbau einer eigenen wirtschaftlich-sozialen Existenz, der Erwerb von „Haus und Hof“ gilt hier als Basis und Grundlage für das alltagspolitische Handeln (s. a. die Initiative „Zusammenrücken in Mitteldeutschland“). Ideen von Generativität, Familiengründung und Kindererziehung können mehr oder weniger stark von der Ideologie durchdrungen sein. Menschen, die in solchen Umfeldern leben und aufwachsen, können unterschiedlich intensiv mit den dort präsenten Sozial- und Gesellschaftsvorstellungen identifiziert sein. Auch wenn solche Gemeinschaften ein hohes Maß an Loyalität verlangen und dafür auch Anreize schaffen, können Ideal und Realität doch weit auseinanderfallen. Menschen, die beginnen, an dem eingeschlagenen Weg zu zweifeln, Räume anzubieten, um ihrem Wunsch nach Veränderung nachzugehen, ist daher ein wichtiges Ziel bei Beratungsangeboten. Zwei Kontexte, die auch für Psychotherapeut*innen relevant sein können, sind hier hervorzuheben: Konflikte in der Lebenspartnerschaft: Krisen in der Lebenspartnerschaft können z. B. für Frauen in rechtsextremen Umfeldern ein Anlass sein, einen Veränderungswunsch zu entwickeln. Sofern beispielsweise physische oder psychische Gewalt in einer Partnerschaft eine Rolle spielt, ist es günstig, wenn professionelle Akteur*innen im Verbund von Frauenberatungsstellen, Ausstiegshilfen und Sicherheitsbehörden zusammenwirken. Auch Angehörige von Heilberufen können z. B. in Kooperation mit Frauenberatungsstellen psychotherapeutische Gespräche im geschützten Rahmen anbieten und sollten mit den relevanten Partner*innen vernetzt sein, um Sicherheitsfragen abzuklären. Konflikte um Erziehungsvorstellungen und das Kindeswohl: Junge Menschen aus rechtsextrem orientierten Familien wachsen meist nicht in einer völlig abgeschotteten Parallelwelt auf (Hechler, 2021). Im Kindergarten, spätestens mit dem Schuleintritt, können entsprechende Hintergründe der Kinder bekannt werden, wenn Besonderheiten im sozialen Verhalten auffällig werden. Kinder und Jugendliche, die sich Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen anvertrauen, in ihrer Entwicklung dahingehend zu begleiten, dass sie nicht völlig in der rechtsextrem beeinflussten Familien- und Sozialwelt auf3 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2024/01/ ansprechstelle-schutz-kommunale-amts-und-mandatstraeger.html [22.04.2024]. 4 S. a. dazu den ersten Teil dieser Serie im PTJ 4/2023 (Bialluch et al., 2023). Die zunehmenden Anfeindungen gegen kommunale Amts- und Mandatsträger*innen stellen eine Bedrohung der Demokratie dar, die in diesem Ausmaß neu ist. 122 Psychotherapeutenjournal 2/2024 Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit – Teil II

gehen müssen, sondern eigene Wege finden können, ist eine explizit pädagogische Aufgabe, die durch Fallbesprechungen seitens unserer Berufsgruppe begleitet werden kann. Bei der Einbeziehung von Jugendämtern zur Abklärung von Kindeswohlgefährdungen sollten auch die ideologische Komponente der elterlichen Erziehung und damit einhergehende Gewalt berücksichtigt werden. Für psychisch belastete junge Menschen können psychotherapeutische Gesprächsangebote sinnvoll sein, bei denen die Verschwiegenheit auch mit Blick auf die Erziehungsberechtigten gewahrt wird. Bei der Arbeit mit solchen Personengruppen ist auch die Einbeziehung von auf Rechtsextremismus spezialisierten Beratungs- und Koordinierungsstellen, wie der „Bundesarbeitsgemeinschaft Ausstieg zum Einstieg e. V.“ und der „Fachstelle Rechtsextremismus und Familie“, zu empfehlen.5 Psychotherapeut*innen können hierbei auch vertiefte Fachkenntnisse im Bereich der Familienpsychologie und Entwicklungspsycho(patho)logie in die Zusammenarbeit einbringen. Mitwirkungsmöglichkeiten von Psychotherapeut*innen als Teil einer multiprofessionellen Zusammenarbeit: Das breitgefächerte Berufsbild ausbauen Konfliktkonstellation: Ausstieg „aus dem System“ und Aufbau von Alternativstrukturen Im Zuge der Pandemie wiesen Facheinrichtungen der Rechtsextremismus- und Demokratieforschung auf verstärkte Bestrebungen von Rechtsextremist*innen hin, eigene Alternativstrukturen im Bereich von Erziehung, Bildung und Gesundheit aufzubauen. Es seien neuartige Allianzen demokratieablehnender Akteur*innen entstanden, die als Antithese zu aktuellen gesellschaftlichen Strukturen einen „Systemausstieg“ nahelegen würden: „Gemein ist diesen antidemokratischen Bewegungen, dass sie die moderne, pluralistische Gesellschaft ablehnen und völkisch-romantische, auf Abgrenzung bedachte Ideale der Lebensgestaltung verfolgen. Innerhalb der Bewegungen sind verschwörungsideologische, rassistische und antisemitische Ressentiments sowie parawissenschaftliche, esoterische und neureligiöse Ansichten weit verbreitet, welche den Mitgliedern Gruppenzugehörigkeit und Identifikation bieten“ (Kiess & Wetzel, 2022, S. 2). Ein einigendes Merkmal dieser Gruppen sind Versuche der Selbstorganisation, die eine sehr unterschiedliche Reichweite haben können. So haben Gruppen aus diesem Spektrum während der Pandemie verstärkt sogenannte „Freilern“-Projekte abseits des staatlichen Schulsystems ins Leben gerufen, um dort eine eigene Pädagogik zu realisieren. Entsprechende Bestrebungen gibt es in Deutschland seit vielen Jahren, u. a. auch mit der sog. Waldorf-Pädagogik6. Gegenwärtig ist in Ostdeutschland vor allem die rechtsesoterische Anastasia-Bewegung aktiv, die Land billig aufkauft, ihrer Gemeinschaft zur Verfügung stellt und dabei Modelle einer Heimerziehung zur „Wehrhaftigkeit“ propagiert, in die rassistische, antifeministische und völkische Elemente eingewoben sind (s. a. Schetinin-Pädagogik). Fragen der Gesundheit, Ernährung und Heilbehandlung werden in solchen sozialen Milieus intensiv verhandelt. Der Rechtsextremismusforscher Andreas Speit spricht hier von einer „neuen Lebensreformbewegung“, deren Merkmal der Versuch sei, alternative Gesundheitsangebote bzw. eine „Heilkunde“ abseits der Schulmedizin zu realisieren, darunter germanische Heilkunde (Speit, 2021). In Verbindung damit findet man oftmals eine starke Wissenschaftsfeindlichkeit wie auch eine Verschmelzung von Spiritualität und Verschwörungserzählungen (die in der Literatur unter dem Begriff der „Conspirituality“ zusammengefasst werden (Pöhlmann, 2021)) – Orientierungen, gegen deren Einfluss leider auch manche Psychotherapeut*innen selbst nicht gefeit sind, sodass unsere Berufsgruppe solchen Tendenzen auch nach innen entgegenwirken muss. Im Handeln nach außen ist für die Heilberufe vor allem die Frage relevant, inwiefern vulnerable Personengruppen, insbesondere Kinder, hier unterschiedlichen Risiken für ihre soziale, emotionale und moralische Entwicklung ausgesetzt sind. Solche Rückzugs- und Ausstiegsbewegungen können aber noch weitreichender sein. So kann sich für die Gesundheitsberufe auch die Frage stellen, inwieweit z. B. in sog. souveränistischen Milieus auch andere verletzliche Personengruppen (z. B. ältere, erkrankte Menschen) davon abgehalten werden, notwendige und ihnen im Rahmen der staatlichen Daseinsvorsorge bzw. Gesundheitsbehandlung zustehende Leistungen in Anspruch zu nehmen. Psychotherapeuten*innen, die in Institutionen tätig sind, wie beispielsweise bei sozialpsychiatrischen Diensten oder gutachterlich im sozialmedizinischen und familienrechtlichen Bereich, können in ihren jeweiligen Rollen einen Beitrag zur Klärung und Bewältigung solcher Problemlagen leisten. Jeder Fall ist individuell, aber oftmals ist es notwendig, dass verschiedene Akteur*innen hier konstruktiv zusammenwirken, um insbesondere vulnerable Personengruppen zu schützen und zu unterstützen. Weitreichende Erfahrungen in solchen Bereichen haben beispielsweise die Beratungsstelle VERITAS7, die eng mit Psychotherapeut*innen zusammenarbeitet, oder auch die mobilen Beratungsteams8 gegen Rechtsextremismus in den Bundesländern gesammelt. 5 https://bag-ausstieg.de, https://rechtsextremismus-und-familie.de/ 6 Zur Kritik s. a. https://www.zeit.de/sinn/2022-11/esoterik-waldorfschule-anth roposophie-paedagogik-okkultismus [22.04.2024]. 7 https://www.veritas-berlin.de [22.04.2024]. 8 https://www.demokratie-leben.de/projekte-expertise/beratungsangebote/alleangebote-der-mobilen-beratung [22.04.2024]. 2/2024 Psychotherapeutenjournal 123 K. Sischka, H. Vogel & C. Bialluch

Konfliktkonstellation: „Normalisierung“ extrem rechter Diskurse Den Rückzugs- und Ausstiegsdynamiken gegenläufig sind Versuche der Normalisierung extrem rechter oder verschwörungsideologischer Diskurse im sozialen Alltag („kulturelle Subversion“; Wagner, 2002). Beides muss sich nicht unbedingt ausschließen. Gerade in ländlich geprägten Regionen gibt es vielfältige Berührungspunkte zwischen Personen, die Teil des extrem rechten Spektrums sind – oder zu „Mischszenen“ gehören, in denen sich völkische, neurechte intellektuelle, esoterische und libertäre bzw. souveränistische Einflüsse mitunter nur noch schwer abgrenzen lassen und ein neuartiges, hybrides Amalgam bilden – und jenem Teil der Bürgergesellschaft, der dem ablehnend gegenübersteht. Die sozialen Orte, an denen solche Berührungspunkte entstehen, sind vielfältig: sei es im Rahmen der Elternarbeit von Kita oder Schule, im Sportverein, in der Freiwilligen Feuerwehr, im Schützenverein, bei Festen und Feiern der Gemeinde oder im Bereich der lokalen Ökonomie oder Gesundheitsversorgung (wie im obigen Beispiel). Gerade auch in kleinen Orten ist man miteinander bekannt, trifft im Vereinsleben oder in der Nachbarschaft aufeinander. Normalisierungsprozesse demokratiefeindlicher Stimmungslagen vollziehen sich eher schleichend, Protagonist*innen entsprechender Haltungen bringen ihre Ansichten nicht immer offen und konfrontativ, sondern mitunter auch eher beiläufig und wie selbstverständlich ein. Wenn rechtsextreme Haltungen artikuliert werden, Verschwörungsnarrative vorgetragen werden, Fake News und Desinformation eingespeist werden, kann dies nicht nur verunsichernd wirken, sondern für Menschen, die sich um das Zusammenleben und die demokratische Kultur sorgen, auch belastend sein. Arbeits- und konfliktfähige Strukturen auf lokaler Ebene sind in solchen Fällen notwendig, um Normalisierungsprozessen entgegenzuwirken, Verschwörungsnarrative nicht zu raumgreifend werden zu lassen und Fake News bzw. Desinformation zu entkräften. Hier kann es durchaus sinnvoll sein, Beratung und Begleitung durch spezialisierte Fachstellen (wie z. B. die Mobilen Beratungsteams in den Bundesländern) oder durch Personen, die gruppendynamisch und sozialpsychologisch qualifiziert sind, in Anspruch zu nehmen. Vor diesem Hintergrund gibt es seit einiger Zeit Förderprogramme zur Stärkung des Zusammenhalts durch Teilhabe, die lokalen Partnerschaften für Demokratie oder auch andere Initiativen, um die demokratische Kultur und Zivilgesellschaft vor Ort zu unterstützen. Hier ist unser Engagement als Psychotherapeut*innen im doppelten Sinne gefordert: einerseits über die Aufgabe, Einzelpersonen in ihrer Fähigkeit zu Konflikt und Auseinandersetzung zu unterstützen, andererseits im Sinne eines breiter gefächerten Berufsbildes, Menschen im Rahmen von Supervisionen, Leitungscoaching, Gruppenmoderationen und anderem mehr ebenfalls Hilfestellung dabei zu leisten, die demokratische Kultur in der Arbeitswelt wie auch im Vereinsleben zu verteidigen und zu behaupten. Konfliktkonstellation: Untergraben der Funktionsfähigkeit demokratischer Strukturen in der Arbeitswelt Aber nicht allein im sozialen Leben spielt sich ein Ringen um „kulturelle Hegemonie“ ab, auch in der Arbeitswelt, in Aus9 Im April 2024 berichteten beispielsweise Medien darüber, dass die Polizeien der Bundesländer aktuell gegen über 400 Polizist*innen Ermittlungs- oder Disziplinarverfahren aufgrund des Verdachts auf eine rechtsextremistische Gesinnung und/oder Verschwörungsideologie führten (Holzapfel, 2024). Zum 30. Juni 2022 waren im Aufgabenbereich Polizei in den Kernhaushalten der Länder insgesamt 278.000 Personen beschäftigt. Auf der Ebene des Bundes kamen noch ca. 50.000 Beschäftigte hinzu. Vgl. https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/1246865/umfrage/beschaeftigte-im-aufgabenbereichpolizei-nach-bundeslaendern/ [22.04.2024]. Fallbeispiel: Frau A. wendet sich an eine Fachberatungsstelle für Angehörige verschwörungsgläubiger Menschen. Sie hat sich im Zuge der Pandemie von ihrem Ehepartner getrennt, mit dem sie 20 Jahre zusammengelebt hatte und eine 15-jährige Tochter hat. Ihr getrenntlebender Mann habe sich tief in die Welt der Verschwörungserzählungen begeben, im Zuge dessen seinen Job verloren und Schulden angehäuft. Nach der Trennung sei er zu seiner betagten Mutter gezogen und in dem kleinen Ort mittlerweile als „der Reichsbürger“ bekannt. Mit ihrem Mann praktiziere sie dennoch ein Wechselmodell, sodass die Tochter jedes zweite Wochenende zu ihrem Vater fahren könne. Es gebe aber weiterhin große Konflikte um die Bildungslaufbahn und Gesundheitsversorgung. Aktuell habe sich dies weiter zugespitzt. Nicht nur nehme der Vater Einfluss auf die Tochter, die dahingehend stark verunsichert sei, wie sie beiden Eltern „gerecht“ werden könne, sondern auch deren Großmutter werde von ihrem Sohn davon abgehalten, sich ihre verschriebene Medikation zuzuführen und Angebote der öffentlichen Gesundheitsversorgung zu nutzen. Erst kürzlich habe er den ambulanten Pflegedienst hinausgeworfen, weil jener die Großmutter bewegen wollte, doch regelmäßig ihre Medikamente einzunehmen. Frau A. mache sich große Sorgen um ihre Tochter aber auch um die alte Dame, die so hilfsbedürftig sei. Dabei wirkt Frau A. zugleich selbst sehr belastet, sie habe immer wieder depressive Phasen, könne schlecht schlafen, grüble viel und wisse keinen Ausweg aus der unerträglichen Situation. Nach all den Jahren der Lebensgemeinschaft und Ehe könne sie nicht verstehen, wie ihr Mann auf diesen Weg habe kommen können; sie fühle sich zunehmend hilflos und erschöpft. Sie sei bereit, selbst eine Psychotherapie zu machen, frage sich aber, ob nicht eigentlich auch ihre Tochter eine solche Behandlung benötigen würde, um das Verhältnis zu ihrem Vater innerlich besser für sich zu klären und über die Belastungen zu sprechen. Außerdem wolle sie die Fachberatungsstelle zur Frage kontaktieren, ob es nicht einen Weg geben kann, der Großmutter zu helfen. Sie wisse, dass im Ort auch ein Demokratieprojekt tätig sei, der Bürgermeister aufgeschlossen sei, und vielleicht könne ja auch in Abstimmung mit dem Pflegedienst überlegt werden, wie ein Weg der Hilfe aussehen könnte. 124 Psychotherapeutenjournal 2/2024 Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit – Teil II

bildungen und in der Berufstätigkeit. Die Spitze des Eisbergs stellen explizit rechtsextreme Vorfälle dar, die beispielsweise in Behörden dienst- oder arbeitsrechtlich geahndet werden müssen. Es ist ein Thema, für das in Landes- und Kommunalverwaltungen, vor allem in der Polizei und Justiz, die Sensibilität gewachsen ist. Ohne diese Sensibilität wäre es nicht möglich, dass z. B. auch der Umgang mit Rechtsextremismus in der Polizei stärker in den Vordergrund getreten ist.9 Rechtsextreme Bestrebungen in der Arbeitswelt sind ein Phänomen, das auch in sozialpsychologischer Hinsicht noch zu wenig Aufmerksamkeit erhält: Denn solche Geschehnisse sind immer auch Symptome tieferliegender Konflikte, die Erosionsprozesse der Identifikation mit demokratischen Strukturen aufzeigen. Nicht selten schlagen Mitarbeiter*innen, die über lange Zeit hinweg ein hohes Maß an Unzufriedenheit aufgebaut oder sich in Kränkungen zurückgezogen haben, einen Weg ein, nichts Konstruktives mehr in die eigene Berufstätigkeit einbringen zu wollen, sondern eher Bereitschaft für Blockadehaltungen, subtiles Untergraben oder sogar Sabotage von Arbeitsprozessen zu zeigen („grievance-fueled attitudes“). Wenn sich dies mit einer Hinwendung zu rechtsextremen Einstellungen oder demokratieablehnenden Haltungen verbindet, kann die Funktionsfähigkeit demokratischer Strukturen (beispielsweise in Behörden oder Ämtern, in Polizei und Justiz) stark beeinträchtigt werden. Es kann dadurch neben materiellem auch ideeller Schaden entstehen, vor allem in Form eines Vertrauensverlusts in das behördliche Handeln. Für die betroffenen Leitungskräfte, aber auch für Teams, die in ihrem Kolleg*innenkreis mit solchen Vorfällen zu tun haben, bedeutet dies nicht nur unmittelbaren Handlungsdruck, um den bereits entstandenen Schaden einzugrenzen, sondern sie werden zugleich mit der Frage konfrontiert, wie sich die zugrunde liegenden Ursachen (die zu Desidentifikation, Kränkungen und Blockadehaltungen führten) verstehen lassen und wie für die Zukunft eine Wiederholung ähnlicher Probleme vermieden werden kann. Auch gesundheitliche Schwierigkeiten können sich im Kontext solcher Krisen entwickeln. Ausgehend von einem breiten Berufsbild können neben der unmittelbar heilberuflichen Tätigkeit auch Angebote von Leitungs- und Teamsupervision, Leitungscoaching und Kriseninterventionen zu den relevanten Aktionsfeldern gehören. Zudem ist in den zurückliegenden Jahren der Bereich der Gesundheitsprävention im öffentlichen Sektor (z. B. in Ministerien oder nachgeordneten Behörden) und in der Privatwirtschaft stärker in den Blick gerückt. Beiträge zur Prävention politisch motivierter Gewalt, Bedrohungsmanagement und Ausstiegshilfe im Strafvollzug Viele Kolleg*innen aus unserer Berufsgruppe sind im Justizvollzug oder in justiznahen Bereichen tätig. Psychotherapie im Strafvollzug oder forensische Psychotherapie mit Menschen, die unterschiedliche Delikte begangen haben, ist in unserer Berufsgruppe seit vielen Jahren etabliert, genauso wie die Sachverständigentätigkeit zur Erstellung von Kriminalprognosen. Immer stärker rücken dabei auch Personen in den Fokus der Aufmerksamkeit, die Delikte im Spektrum politisch motivierter Kriminalität begangen haben. Hasskriminalität oder auch Straftaten im Bereich des Terrorismus resultieren aus einem komplexen Zusammenspiel psychischer, sozialer und ideologischer Motive. Allerdings ist hinsichtlich des Alters der Tatverdächtigen, ihrer Radikalisierungsintensität und auch der Schwere der Taten durchaus zu differenzieren. In welcher Weise unsere Berufsgruppe hier mit vielen anderen Berufsgruppen und Professionen gefordert ist, soll anhand von drei Bereichen skizziert werden: Psychosoziale Interventionen bei jugendlichen Ersttäter*innen Ein großer Anteil der pädagogischen Angebote im Bereich der Prävention von Rechtsextremismus richtet sich an junge Menschen, die erste Anzeichen einer Hinwendung zu diesem Phänomenbereich zeigen und in einem frühen Stadium einer vermuteten Radikalisierung pädagogisch erreicht werden sollen. Doch gibt es auch einen kleinen Anteil, der durch Taten im Spektrum der Hasskriminalität (oft in sozialen Medien) oder politisch motivierte Delikte (z. B. Verwendung verfassungswidriger Symbole) auffällt. Es ist ein Unterschied, ob ein junger Mensch erste Anzeichen einer Sympathie für rechtsextreme Gruppierungen bzw. Parteien zeigt oder bereits fest in einer Gruppe organisiert ist. Bei strafrechtlich relevanten Taten kommt es bei Ersttäter*innen oft zu Verurteilungen zu Sozialstunden, Geldstrafen oder Bewährungsauflagen – und nur in besonders schweren Fällen zur Inhaftierung. Eine besondere Rolle spielen ambulante Maßnahmen nach dem Jugendstrafrecht, zu denen auch psychosoziale Kompetenztrainings (wie z. B. Denkzeittraining/Blickwechsel) gehören und die oft beglei- Psychotherapeut*innen können einerseits Einzelpersonen in ihrer Fähigkeit zu Konflikt und Auseinandersetzung unterstützen, andererseits Menschen im Rahmen von Supervisionen, Coaching o. Ä. dabei helfen, die demokratische Kultur in ihrem sozialen Umfeld zu verteidigen und zu behaupten. 2/2024 Psychotherapeutenjournal 125 K. Sischka, H. Vogel & C. Bialluch

tend auch dazu motivieren können, eine Psychotherapie zu beginnen. Die Vernetzung mit Maßnahmen der Jugendhilfe und ambulanten Maßnahmen nach dem Jugendstrafrecht ist gerade auch im Fall von komplex vorbelasteten jungen Menschen, die nicht selten auch bereits stationäre Aufenthalte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie durchlaufen haben, ein Feld, welches größere Aufmerksamkeit erhalten sollte. Unsere Berufsgruppe kann hier ihre vertieften Fachkenntnisse, Kompetenzen und Berufserfahrungen an der Schnittstelle von Entwicklungspsychopathologie, Delinquenzentwicklung und forensischer Tätigkeit einbringen. Auch Präventionsabteilungen bei der Polizei sind daran interessiert, dass unsere Berufsgruppe hier stärker mitwirkt. Hier liegen Chancen, junge Menschen zu erreichen, bevor sie eine „extremistische Karriere“ einschlagen. Bedrohungsmanagement Von der pädagogisch-psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit mit jungen Menschen zu unterscheiden ist der Umgang mit Erwachsenen im mittleren Lebensalter, die bereits tiefer mit einer extremistischen Ideenwelt verbunden sind oder eine in jeder Hinsicht staatsablehnende und demokratiefeindliche Haltung einnehmen. Eine solche aversive Einstellung gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Außenwelt kann bis hin zur Selbstbewaffnung und Gewalt eskalieren. Menschen, die sich solchen vigilantistischen Kreisen oder Gruppen zuwenden, können Erfahrungen von Bedeutungsverlust, Groll und Kränkungen erlebt haben. Solch ein Erfahrungshintergrund kann bei diesen Personen zu einer Vulnerabilität und Empfänglichkeit für ein für sich wahrgenommenes Notwehr- und Widerstandsdispositiv führen und sie affin gegenüber Bewegungen werden lassen, die sich gegen den Staat wenden. In diesem Kontext wird auch die Frage nach dem Waffenbesitz und Waffenscheinen aktuell stärker diskutiert. Auch psychologische und psychopathologische Fragen sind hier zu berücksichtigen (Dake, 2023), sodass unsere Berufsgruppe hier durch Sachverständigen- und Beratungstätigkeiten mitwirken könnte. In jedem Fall ergibt sich daraus die Notwendigkeit eines auch psychologisch fundierten Bedrohungsmanagements, wie es beispielsweise in der Schweiz seit vielen Jahren existiert. Dort ist auch eine Einbindung von Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen als Teil des Bedrohungsmanagements durchaus üblich. Erste Ansätze eines solchen Bedrohungsmanagements prägen sich derzeit auf Länderebene aus, wo neben Sozial- und Politikwissenschaftler*innen sowie Polizeibeamt*innen auch Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen einbezogen werden. Zudem bilden sich bei den Landespolizeien teilweise spezialisierte Präventionsabteilungen. Insgesamt zeichnen sich in diesem Zusammenhang neue verschiedene interprofessionelle Kooperationsmöglichkeiten ab. Arbeit in Strafvollzug und Bewährungshilfe Ein dritter Bereich ist die psychologisch-psychotherapeutische Mitwirkung an der Vollzugsplanung und -gestaltung im Strafvollzug und die Arbeit mit aus der Haft entlassenen Personen, die einschlägige Straftaten begangen haben oder als radikalisiert eingeschätzt werden. Für Psychotherapeut*innen ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, mit Inhaftierten ins Gespräch zu kommen – Möglichkeiten, die bisher nicht immer auch als solche erkannt und wahrgenommen werden: sei es in der Krisenintervention im Bereich von Untersuchungshaft, bei der Einweisung in den Vollzug und ersten Vollzugsplanung in den Einweisungsabteilungen oder im Kontext der Mitwirkung im sozialtherapeutischen Vollzug und in psychotherapeutischen Beratungsstellen des regulären Vollzugs. Mitunter sind es vielleicht lediglich punktuelle Gespräche zur Abklärung von Krisen oder Suizidgedanken, oft aber auch Gespräche im Rahmen der regulären Vollzugsplanung, die es Inhaftierten ermöglichen können, über sich selbst, ihren Werdegang, ihre Taten und Perspektiven in ein Reflektieren zu kommen. Für unsere Berufsgruppe ist es wichtig, zu erkennen, ob sich bei unserem jeweiligen Gegenüber eine Gesprächsbereitschaft entwickelt, ob vielleicht erste Zweifel oder ein echter Veränderungswunsch wachsen, und dann die dafür passende Unterstützung anzubieten. Die Zusammenarbeit mit anderen Fachdiensten, wie insbesondere dem sozialen und medizinischen Dienst, aber auch eine Vernetzung mit externen Trägern, sofern die Vollzugsplanung dies ermöglicht, sollte hier explizit gepflegt werden. Eine besonders entscheidende Zeit ist jene der Haftentlassungsvorbereitung, bei der es darum geht, auch die innerpsychische Situation der inhaftierten Person gut zu verstehen, um Rückfallrisiken zu erkennen und abzubauen bzw. eine Stabilität im Bereich einer Neuorientierung abseits extremistischer Ideologie- und Sozialbezüge zu fördern. Ein gutes Zusammenwirken mit der Bewährungshilfe und anderen Hilfsstrukturen ist in dieser Zeit besonders wichtig. Neben den Projekten zur Prävention und Deradikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe aus dem Bundesprogramm „Demokratie Leben!“10 ist auch die Initiative NEXUS – Psychotherapeutisch-Psychiatrisches Beratungsnetzwerk11 für eine Fachberatung ansprechbar. Abschluss In unserem Artikel haben wir uns bemüht, die Folgen der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung durch rechtsextremistische Bewegungen für unser Gemeinwesen zu skizzieren und vor diesem Hintergrund mögliche Handlungsfelder für Psychotherapeut*innen als Teil eines präventiven Kooperationsnetzwerkes zu diskutieren. Wir als Psychotherapeut*innen können einzelne Menschen unterstützen und bestärken, sich der Auseinandersetzung mit 10 https://www.demokratie-leben.de/projekte-expertise/projekte-finden-1/pro jektdetails/ag-strafvollzug-und-bewaehrungshilfe-487 [22.04.2024]. 11 https://www.nexus-psychotherapeutisches-netzwerk.de [22.04.2024]. 126 Psychotherapeutenjournal 2/2024 Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit – Teil II

rechtsextremen Entwicklungen zu stellen und für demokratische Strukturen einzutreten. Zugleich sollten wir offen für diejenigen sein, die sich von menschenfeindlichen Ideologien lösen möchten, denen das aber aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände oder psychischen Belastungen schwerfällt. Die unserer Berufsgruppe genuin eigene Perspektive auf rechtsextreme Haltungen, die wir so auch als psychische Bewältigungs- bzw. Coping-Strategien der individuellen und kollektiven Krisenwahrnehmungen und damit verbundener Vulnerabilität deuten können, kann in der multiprofessionellen Zusammenarbeit dabei helfen, einen besseren Umgang damit zu eröffnen und nicht in eine kategorische Zurückweisung dieser Menschen zu verfallen. Über die Arbeit mit einzelnen Menschen hinaus ist auch unsere Expertise in Supervision und Moderation eine wichtige Ressource, um Prozesse in Gruppen und Institutionen zu begleiten, sodass Demokratie nicht nur eingefordert, sondern – so gut es eben geht – auch gelebt werden kann. Wir wissen, wie schwer es sein kann, die Haltung und Ambiguitäten des anderen einerseits ernst zu nehmen und zu kritisieren, aber andererseits auch anzuerkennen. Oft entsteht erst daraus die Möglichkeit, ins Gespräch zu kommen und auch die Zweifel aufzugreifen, die es für die Abwendung von rechtsextremen Haltungen braucht. Gewiss können Psychotherapeut*innen sich nicht immer und überall mit radikalen Ideologien und radikalisierten Menschen auseinandersetzen. Dies würde auch den Rahmen ihrer eigentlichen Profession sprengen. Sich allerdings als Teil eines multiprofessionellen Räderwerks zu betrachten, um im Bedarfsfall Fachkräfte in der Präventionsarbeit und Opfer von rechtsextremer Gewalt zu unterstützen, könnte so einen wichtigen Beitrag zu einer resilienteren Demokratie leisten. Literatur Bialluch, C., Sischka, K. & Vogel, H. (2023). Rechtsextremismus, Prävention, Deradikalisierung und psychische Gesundheit. Herausforderungen und Möglichkeiten psychotherapeutischer Berufsgruppen. Psychotherapeutenjournal, 22 (4), 354–362. BPtK. (2014). Überarbeiteter Entwurf eines Berufsbildes des BPtK-Vorstands und der AG des Länderrates zur Reform der Aus- und Weiterbildung. Online verfügbar unter: https://api.bptk.de/uploads/20141118_berufsbild_ag_lr_ stand_06052014_18af4bd82c.pdf [22.04.2024]. Bundesministerium des Innern und für Heimat. (2022). Aktionsplan gegen Rechtsextremismus. Online verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de/ SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2022/aktionsplan-rechtsex tremismus.pdf?__blob=publicationFile&v=3 [22.04.2024]. Dake, B. (2023). Verschärfung des Waffenrechts: Was Ministerin Faeser plant. Online verfügbar unter: https://www.br.de/nachrichten/deutschlandwelt/waffenrecht-das-plant-nancy-faeser,TSSK7KN [22.04.2024]. Helal, A. (2022). Rechte Räume? Kartierungen von radikal rechten Raumaneignungen. In D. Mullis & J. Miggelbrink (Hrsg.), Lokal extrem Rechts. Analysen alltäglicher Vergesellschaftungen (S. 219–244). Bielefeld: transcript. Hechler, A. (2021). Funktionalisierte Kinder. Kindeswohlgefährdung in Neonazifamilien – eine Hilfestellung für Fachkräfte in den Bereichen Recht und (Sozial-)Pädagogik (2., leicht veränd. Aufl.). Bremen: Fachstelle Rechtsextremismus und Familie / Lidicehaus. Online verfügbar unter: https://rechtsext remismus-und-familie.de/wp-content/uploads/2022/03/RuF_funktionalisier te_kinder_auflage2.pdf [22.04.2024]. Holzapfel, D. (2024). Hunderte Beamte der Landespolizei stehen unter Extremismusverdacht. Online verfügbar unter: https://www.stern.de/gesellschaft/ hunderte-rechtsradikale-und-mutmassliche-reichsbuerger-in-den-polizeiender-bundeslaender-34596762.html [22.04.2024]. Kiess, J. & Wetzel, G. (2022). Digital Report. Ausstieg aus der Demokratie: Einblicke in sächsische Telegram-Gruppen & Kanäle. EFBI Digital Report 2022–2. Online verfügbar unter: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/ wp-content/uploads/2022/07/2022_efbi_digital-report_2.pdf [22.04.2024]. MOTRA. (2022). Kommunales Monitoring. Hass, Hetze und Gewalt gegenüber Amtsträgerinnen und Amtsträgern (KoMo). Auswertung der Herbstbefragung 2022. Online verfügbar unter: www.motra.info/wp-content/up loads/2022/11/KoMo-Herbstbefragung-2022.pdf [22.04.2024]. Pöhlmann, M. (2021). 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Er ist Autor des Fachblogs „Erasmus Monitor“ und wissenschaftliche Begleitung des Beratungsnetzwerkes NEXUS an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Dr. Christoph Bialluch Dr. phil. Christoph Bialluch, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (TP/PA) ist Mitglied der DPV, IPA und DGPT und niedergelassen in Berlin. Er engagiert sich seit 2014 im Bereich der selektiven und indizierten Extremismusprävention (v. a. bei NEXUS) und unterrichtet Psychologie in unterschiedlichen Zusammenhängen. 2/2024 Psychotherapeutenjournal 127 K. Sischka, H. Vogel & C. Bialluch

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